Episode 10: Marianne Gronemeyer über Bedürfnisse

Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin Prof. Marianne Gronemeyer sprach mit uns am 10.10.2023 über „Die Macht der Bedürfnisse“. Das Werk, das ursprünglich 1988 bei Rowohlt erschien, stellt ihre Habilitationsschrift dar. Sie entstand unter dem Eindruck ihrer Begegnung mit Ivan Illich.

Das Brockhaus-Lexikon von 1986 definiert Bedürfnisse folgendermaßen:

„Bedürfnisse sind ein Gefühl des Mangels, das die Tendenz zu dessen Aufhebung enthält… In der Psychologie unterscheidet man triebbedingte und erworbene Bedürfnisse.“

Die Rowohlt‘sche Verlagsankündigung zu „Die Macht der Bedürfnisse“ schreibt hingegen:

„Wir glauben, die Welt werde nach unseren Bedürfnissen eingerichtet, tatsächlich richten sich unsere Bedürfnisse nach der Welt. Wir sind überzeugt, dass wir Macht über unsere Bedürfnisse haben, in Wahrheit sind die Bedürfnisse das Einfallstor der Macht, die über uns ausgeübt wird. Wir halten die Bedürfnisse für den Ausdruck unseres ureigensten Wollens, aber sie sind ein Verhängnis, das über uns kommt.“

Bedürfnisse, Marianne Gronemeyer zufolge, sind ein soziales Konstrukt, das der Macht den Weg bereitet. Diese Aussage leugnet natürlich nicht die Notwendigkeit des Essens für das Überleben, sondern stellt diese Tatsache in einen anderen Kontext. Das Streben, den Mangel zu beseitigen, habe in der Menschheitsgeschichte zwei grundlegende Möglichkeiten gefunden, auf dieses Gefühl zu reagieren, erläutert sie: Erstens, man mäßigt die Bedürfnisse beziehungsweise passt sie an die Gegebenheiten an. Zweitens, man versucht, ihm mit der Produktion und Anhäufung von Befriedigungsmitteln zu begegnen.

Die erste Möglichkeit begreife die Gegebenheiten buchstäblich als Gabe, auf deren Grundlage wir mit menschlicher Kreativität dem, was wir für notwendig erachten, aktiv begegnen. Menschen lernten, mit den gegebenen Bedingungen zu leben. Das ermöglichte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Mensch und Natur, vorausgesetzt, sagt sie, man könne in die eigene Sterblichkeit einwilligen.

Die zweite Möglichkeit basiere auf dem Eindruck, die Welt sei defizitär; in ihr herrsche nichts als Mangel, und das schließe letztlich sogar den Menschen als verbesserungsbedürftig ein. Alles werde zum Rohmaterial zur Produktion von Konsumgütern, mit denen Bedürfnisbefriedigung erreicht werden soll. Das generiere kulturelle Einfalt, in beiden Sinnen des Wortes.

Im Sinne der ersten Möglichkeit setzt Marianne Gronemeyer der Bedürftigkeit die Daseinsbedingungen entgegen, und der Bedürfnisbefriedigung die Daseinsmächtigkeit – die Fähigkeit, die Daseinsbedingungen vorteilhaft zu nutzen. Sie tauscht damit keineswegs nur ein Wort gegen das andere aus, sondern eröffnet und beschreibt einen anders gearteten Zugang zur Thematik. Ihre erklärte, kaum zu überhörende Liebe – oder, wie sie selbst es ausdrückt, ihr „amouröses Verhältnis“ – zur deutschen Sprache lässt sie regelmäßig im Wortbau und der Wortgeschichte nach Erkenntnissen zum Gemeinten suchen.

Im Wort „Bedürfnis“ steckt das „Dürfen“, also das, was man wollen darf. Das heiße, der Zugang zu dem, was man eigentlich, authentisch will, sei versperrt. Daran könne man ersehen, dass es im Bedürfnisdiskurs im Grunde um Machtverhältnisse gehe.

Auch das Wort „befriedigen“ weise auf die Problematik des Bedürfnisbegriffs hin. Der in ihm versteckte „Frieden“ deute schon an, was das Wort „kriegen“ unmissverständlich zum Ausdruck bringe: Die (vorläufige) Befriedigung von Bedürfnissen sei die (nur vorübergehende) Beendigung eines Kriegszustands. Dieser Krieg bestehe in dem Konkurrenzverhältnis all derer, die das, was sie zum Leben brauchen, kriegen müssen. In einer Wachstumsgesellschaft, so lässt Marianne Gronemeyer anklingen, ist dieser Zustand erwünscht, ja wird sogar herbeigeführt. Wenn es gelingt, Bedürfnisse anzuheizen, wird Mangel einerseits zum Dauerzustand und damit andererseits zur Rechtfertigung endloser Produktionssteigerung.

Der Macht, der wir in die Hände fallen, indem wir uns abhängig von Bedürfnisbefriedigungsmitteln machen (lassen), könne man auf zweierlei Weisen begegnen: erstens durch Gegenmcht, also dem Ringen um Einfluss auf die Entscheidungen der Mächtigen. Damit akzeptiere man deren Spielregeln und sorge letztlich nur für eine Verlagerung, einen Wechsel der Anteilseigner. Frau Gronemeyer zitiert Elias Canetti mit den Worten: „Ich habe noch nie von einem Menschen gehört, der die Macht attackiert,  ohne sie für sich zu wollen.“ Zweitens kann man sich entschließen, „nichts von dem zu begehren, was die Macht verwaltet,“ schreibt die Soziologin. Sie zitiert erneut Canetti: „Wenn die Bakairi mit ihrem Häuptling unzufrieden sind dann verlassen sie das Dorf und bitten ihn, allein zu regieren.“

Die Macht, sagt sie, sei nur ermächtigt, wenn sie Unterworfene hat. Wenn letztere den Willen aufbringen, sich nicht den Knappheitsdiktaten der Macht zu entsprechen, sind sie frei. Marianne Gronemeyer hat für die Entscheidung, die Macht nicht zu begehren und nicht mit ihr oder um sie zu ringen, das Wort „Ohn-Macht“ geprägt. Damit apelliert sie an die Fähigkeit zur Kooperation, um neue Daseinsmöglichkeiten zu erschließen – „die denkbar radikalste Form des Widerstandes,“ sagt sie.

Im Essay „Nachhaltiger Konsum“ (2007) schreibt sie:

„Es ist etwas anderes, ob es das Ziel des Widerstandes ist, die Teilhabe aller an Konsumation und Produktion industrieller Produkte zu gewährleisten, oder ob es der Wiederherstellung und der Verteidigung der Daseinsmächtigkeit der Menschen gilt.“

Die Haltung der Ohn-Macht, die sie beispielsweise in Bonhoeffer, Gandhi, King oder Jesus verwirklicht sehe, bringe zum Ausdruck: „Du kannst mich vernichten, aber beherrschen kannst du mich nicht!“ Ohn-Macht sei keine Attitüde dauernder Freundlichkeit oder Wehrlosigkeit. Rezepturen, Handlungsanweisungen oder Grenzen des Widerstands möchte Frau Gronemeyer nicht geben, denn die Entscheidung darüber könne nur, und müsse, im konkreten Fall getroffen werden. Sie sei auch vom Mut des Handelnden und seiner Bereitschaft, gegebenenfalls Schuld auf sich zu laden, abhängig.

„Es ist die Macht selbst, die Bedürfnisse hat,“ schreibt die Soziologin, und diese bestünden darin, sich unserer Kollaboration zu versichern. Mithilfe von Besitzmacht, diagnostischer Macht und der Macht der Katastrophe generiert sie unsere Bedürfnisse nach Zeitersparnis, Sicherheit, Bequemlichkeit und Akzeptanz. Den Tod so lange wie möglich hinauszuzögern, sei beispielsweise die Ultima Ratio des Sicherheitsbedürfnisses; dieses findet niemals ausreichend Befriedigung und wird schlussendlich stets frustriert.

„Es gibt zwei Sorten von Sicherheit. Die eine antwortet auf die Frage: „Wann bin ich sicher?“, die andere auf die Frage: „Wann fühle ich mich sicher“ […] die eine Sorte Sicherheit macht bedürftig, die andere befähigt mich zur Nichtbedürftigkeit und entmachtet die Macht.“ (Zitat: „Nachhaltiger Konsum“; Hervorhebung: JH)

Die Gemeinschaft mit Anderen kann dazu beitragen, sich sicherer zu fühlen. Marianne Gronemeyer nennt die Frage „Können Sie mir helfen?“ als einen der wichtigsten Sätze in ihrem Repertoire, Ein weiterer laute: „Und wenn es nun ganz anders ist?“; er zielt auf die scheinbaren Selbstverständlichkeiten, mit denen Diskussionen, etwa jene zur Bedürftigkeit des Menschen, geführt werden.

webpage: www.marianne-gronemeyer.de

Literatur:

  • Die Macht der Bedürfnisse: Reflexionen über ein Phantom / Marianne Gronemeyer – Rowohlt 1988
  • Die Macht der Bedürfnisse: Überfluss und Knappheit / Marianne Gronemeyer – wbg 2002

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