Soziologe und Theologe Prof. Reimer Gronemeyer sprach mit uns am 2.10.2023 über Geschichte und Gegenwart von Tugenden und deren Bedeutung für unser Zusammenleben.
Ausgehend von seinem Mitgefühl für Schwache und Benachteiligte und mit dem deutlichen Gefühl, in einer Zeit zugespitzter Krisen zu leben, engagiert er sich in vielfältiger Form, um den Dialog zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Neben zahlreichen Publikationen, Vorträgen, Vereinsaktivitäten und Podiumsdiskussionen bereiste er einige Länder Afrikas. Er beobachtet dort eine Vitalität und Hoffnung unter den Menschen, die er im europäischen Raum vermisst.
Der Mangel mag mit unserem über lange Zeit steigenden allgemeinen Lebensstandard zusammenhängen – einem verbreiteten Konsumismus und Materialismus, wie er an anderer Stelle verschiedentlich anmerkte –, welcher die Erfahrungen aus der Zeit der Diktatur nicht tiefer eindringen ließ. Neben den Schrecken des sich andeutenden Zusammenbruchs der Wohlstandsgesellschaft sieht er jedoch eine Chance für einen Neuanfang.
Der Tugendbegriff, auch wenn er ein angestaubtes Image besitzt, könnte sich dabei als nützlich erweisen. Ich hatte den Eindruck, es ginge ihm weniger um die konkreten Tugenden der klassischen Antike (Mäßigung, Gerechtigkeit, Klugheit und Tapferkeit) und des Christentums (Glaube, Liebe, Hoffnung) als solche. Vielmehr hofft er, sie könnten uns helfen, uns an unsere Wurzeln zu erinnern. So könnten wir statt mit Ideen von Konkurrenz und Selbstoptimierung mit einem neuen Satz von zu unserer Kultur passenden Tugenden die Zeit der Krisen durchschreiten.
„Die größte Gefahr, in der wir leben, ist vielleicht die Erinnerungslosigkeit, dass alles, was alt ist, weg muss zugunsten einer Beschleunigungs- und Innovationsgesellschaft, die nur nach vorne schaut,“ sagt er im Gespräch. Gegen später erläutert er, dass wir Europäer aus seiner Sicht tatsächlich genau wie die Opfer unserer Kolonisierungsaktivität kulturell fast alle Wurzeln verloren haben, an die wir anknüpfen könnten. Es gelte einzusehen, dass wir auf den Trümmern einer zerstörten Gesellschaft säßen, bevor wir über Tugend nachdenken.
Tugenden stellten dem Individuum Aufgaben, seien jedoch kein Programm zur Selbstförderung; sie seien das, was Gemeinschaften zusammenhalte. Es gehe darum, die Augen und die Sinne für den Anderen zu öffnen. Reimer Gronemeyer führt als Beispiel die südafrikanische Tugend „Ubuntu“ an, die die fundamentale Erfahrung zum Ausdruck bringe, dass wir von anderen abhängig sind und unser Menschsein aus dem Blick ins Angesicht des Nächsten herleiten.
Krankheiten wiesen in diesem Verständnis auf eine Störung in der Gemeinschaft hin und könnten durch den Beistand der Gemeinschaft auch wieder geheilt werden. In Europa hingegen werde Krankheit problematisiert und zwecks Elimination an Institutionen abgegeben.
Im europäischen Kulturkreis ist statt von Tugenden nun viel die Rede von „westlichen Werten“ und „wertebasierter Ordnung“. Wir schätzen etwas wert oder messen ihm Wert bei. Reimer Gronemeyer nennt diese Einstellung einen „moralischen Instantkaffee.“ „Wenn man nicht mehr vom Guten reden will, dann fängt man an, von Werten zu reden,“ zitiert er seinen Lehrer Ivan Illich. Werte gehörten an die Börse, meint er, nicht in eine Ethikdebatte. Der massenhafte kritiklose Gebrauch dieses Wortes zeuge von einem ethischen Zusammenbruch, der auch damit zu tun habe, dass dem gegenwärtigen Verständnis von Wissenschaft folgend messbare Größen zunehmend eine Rolle spielen. Dass die Verteidigung „westlicher Werte“ mithilfe von Streubomben geführt werde, zeige, dass Werte „für jede Sauerei brauchbar“ seien.
Die Toten Hosen sangen einst: „Tod oder Freiheit,“ aber sie leben noch. In Gronemeyers Buch „Tugend“ (Ed. Körber, 2019) finden wir im Zusammenhang mit der Entscheidung des Sokrates, den Häschern nicht zu entfliehen, sondern für die Gültigkeit der Tugend einzustehen, die Maxime „Tod oder Tugend.“ Auf die Frage, ob wir eben so leicht mit einem Schulterzucken davonkommen werden, wie die Hosen, wenn wir nicht unseren Bekenntnissen gemäß leben, antwortet er, diese Herausforderung werde drängender, aber die Wahl liege beim Einzelnen. Sie hänge am persönlichen Mut.
Die Frage nach der Tugend sei stets auch die nach der Zukunft der Gesellschaft: Sind wir bereit, die Schwachen mitzutragen oder gehen wir dazu über, sie zu marginalisieren oder gar „plattzumachen“?
Die Wahl der geeigneten Tugenden für unsere Zeit sieht der Soziologe der Situation geschuldet, weniger etwaigen dogmatischen Überlegungen. Als tugendhaft sieht er beispielsweise, den Schmerz bzw. die Wunde dessen, was er (er)lebt, offen zu halten.
Eine weitere zentrale Tugend findet Reimer Gronemeyer in der Überlegung, wie er seine ihm verbleibende Lebenszeit verwenden soll. Eine klare Antwort darauf könne er jedoch nicht geben. „Vielleicht ist das, was uns im Moment besonders fehlt, so mein Eindruck, die Bereitschaft zum kritischen Denken, zum unnachgiebigen Befragen der eigenen Existenz als eine Frage nach der Tugend; also: Wie wollen wir leben?“, sagt er. Er versuche ein Leben in Gastfreundschaft und Freundschaftlichkeit zu führen. Als Tugenden von persönlicher Bedeutung nennt er darüber hinaus Mäßigung und Hoffnung.
website: www.reimergronemeyer.de
Literatur: Tugend: Über das, was uns Halt gibt / Reimer Gronemeyer. – Körber 2019
So ein schönes, lebendiges und gescheites, wichtiges Gespräch! Danke an Jürgen und Reimer!
Zu der Werte-Diskussion passt ein ebenso polemischer Artikel von Franz Schandl, der sich auch u.a. auf Ivan Ilitch bezieht:
„Wert und Werte – Wegweiser im wirkmächtigsten Gehege der Zeit“
https://www.streifzuege.org/2022/wert-und-werte/
Liebe Niko,
danke für das Lob. Da es mein erstes Interview war, das ich je als Fragesteller durchführte, sehe ich mehr die Fehler, die ich beging. Aber Reimer reißt’s wieder raus.
Schandls Artikel finde ich wirklich sehr passend. Wunderbarer Hinweis!