Episode 39: Das 5. hermetische Prinzip des Pendels bzw. Rhythmus

„Alles fließt aus und ein; alles hat seine Gezeiten; alles steigt und fällt; in allem zeigt sich die Pendelschwingung; das Maß der Schwingung nach rechts ist das Maß der Schwingung nach links; der Rhythmus gleicht aus.“

– Das Kybalion

Die der Eingeweihten sagen:

Das große fünfte hermetische Prinzip – das Prinzip vom Rhythmus – enthält die Wahrheit, dass sich in allem eine abgemessene Bewegung äußert; eine Bewegung hin und her; ein Ein- und Ausfließen; Vorwärts- und Rückwärtsschwingen; eine pendelartige Bewegung; eine gezeitengleiche Ebbe und Flut; eine Hoch- und eine Tief-Zeit; zwischen den beiden Polen, die sich auf den physischen, mentalen und spirituellen Ebenen manifestieren.

Das Prinzip vom Rhythmus ist eng verknüpft mit dem Prinzip der Polarität, welches im vorhergehenden Kapitel erörtert wurde. Rhythmus manifestiert sich zwischen den beiden Polen, die vom Prinzip der Polarität errichtet worden sind. Dies will aber nicht sagen, dass das rhythmische Pendel bis zu den extremen Polen schwingt, denn das kommt nur selten vor. Tatsächlich ist es in den meisten Fällen schwer, die extremen, polaren Gegensätze festzusetzen. Aber der Schwung des Pendels ist immer erst in der Richtung nach dem einen und dann in der Richtung nach dem anderen Pol.

In allen Phänomenen des Universums manifestiert sich eine Aktion und Reaktion, ein Fortschritt und Rückschritt, ein Steigen und Sinken. Sonnen, Welten, Menschen, Tiere, Pflanzen, Minerale, Kräfte, Energie, Geist und Materie, ja sogar der Spirit, manifestieren dieses Prinzip. Das Prinzip manifestiert sich in der Erschaffung und Zerstörung von Welten, im Steigen und Fallen von Nationen, in der Lebensgeschichte aller Dinge, und endlich in den mentalen Zuständen des Menschen.

Um mit den Manifestationen des Spirit – des ALLs – zu beginnen: man wird bemerken, dass immer das Ausströmen und Einziehen da ist, das „Ausatmen und Einatmen von Brahma“, wie die Brahmanen es ausdrücken. Universen werden geschaffen, erreichen ihren extrem niederen Punkt der Materialität und beginnen dann ihren Schwung nach aufwärts. …

Und so ist es mit allen Welten; sie werden geboren, wachsen und sterben, nur um wieder geboren zu werden; sie schwingen von Aktion zu Reaktion; von der Geburt zum Tod; von Tätigkeit zu Untätigkeit und dann wieder zurück.

So ist es mit allen leben den Dingen; sie werden geboren, wachsen und sterben – und werden dann wieder geboren.

So ist es mit allen großen Bewegungen, Philosophien, Glaubensbekenntnissen, Sitten und Bräuchen, Regierungen, Nationen und allem anderen – Geburt, Wachstum, Reife, Verfall, Tod – und dann neue Geburt. Der Schwung des Pendels ist in allem offenbar.

Die Nacht folgt dem Tage und der Tag folgt der Nacht. Das Pendel schwingt vom Sommer zum Winter und dann wieder zurück. Die Körperteilchen, Atome,Moleküle und alle Massen von Materie schwingen um den Kreis ihrer Natur. Es gibt keine absolute Ruhe, kein Aufhören der Bewegung, und alle Bewegung hat Teil am Rhythmus. Das Prinzip ist von universaler Anwendungsmöglichkeit. Es kann auf jede Frage angewendet werden, auf alle Phänomene eines jeden der zahlreichen Ebenen des Lebens. Es kann auf alle Phasen menschlicher Tätigkeit angewendet werden. Es ist immer der rhythmische Schwung von einem Pol zum anderen. Das universale Pendel ist immer in Bewegung. Die Gezeiten des Lebens fluten ein und aus, in Übereinstimmung mit dem Gesetz.

Das Prinzip vom Rhythmus wird von der modernen Wissenschaft gut verstanden und wird – angewendet auf materielle Dinge – als universales Gesetz betrachtet. Die Hermetiker aber dehnen die Anwendung des Prinzips viel weiter aus; sie wissen, dass seine Manifestationen und sein Einfluss bis zu den mentalen Aktivitäten des Menschen reichen, dass dieses Prinzip die verwirrende Folge von Stimmungen, Gefühlen und andere unangenehme und verblüffende Veränderungen, die wir in uns selbst wahrnehmen, erklärt. Durch das Studium der Wirkungen dieses Prinzips haben die Hermetiker gelernt, manchen seiner Wirkungen durch Transmutation zu entgehen.

Die hermetischen Meister haben schon vor langer Zeit entdeckt, dass, obwohl das Prinzip vom Rhythmus unveränderlich und in mentalen Phänomenen immer evident ist, es doch zwei Ebenen seiner Manifestationen gibt, soweit es mentale Phänomene betrifft. Sie entdeckten, dass es zwei Hauptebenen des Bewusstseins gibt, die niedere und die höhere. Das Verständnis dieser Tatsache befähigte sie, sich zur höheren Ebene zu erheben und so dem Schwung des rhythmischen Pendels zu entgehen, welcher sich auf der niederen Ebene manifestierte. In anderen Worten, der Pendelschwung fand auf der unbewussten Ebene statt, und das Bewusstsein wurde nicht berührt. Dies nennen die Hermetiker das Gesetz der Neutralisation.

Seine Wirksamkeit besteht darin, dass sich das Ego über die Schwingungen der unbewussten Ebenen mentaler Aktivität erhebt, sodass sich der negative Schwung des Pendels nicht im Bewusstsein manifestiert und so die Hermetiker nicht davon berührt werden. Es ist dies ein Vorgang, ähnlich dem, wenn man sich über ein Ding erhebt und es unter sich vorübergehen lässt. Die hermetischen Meister oder fortgeschrittene Schüler polarisieren sich auf den gewünschten Pol, und durch einen Vorgang, ähnlich einer „Verweigerung“ an dem Rückschwung teilzunehmen, oder, wenn es euch so lieber ist, einer „Verneinung“ seines Einflusses auf sie selbst, stehen sie fest auf ihrer polarisierten Position und lassen das Pendel auf der unbewussten Ebene zurückschwingen. Alle Individuen, die einen gewissen Grad von Selbstbeherrschung erlangt haben, tun dies mehr oder weniger unwissentlich; wenn sie ihren Stimmungen und negativen mentalen Zuständen nicht gestatten, sie zu beeinflussen, so wenden sie das Gesetz der Neutralisation an. Der Meister jedoch erreicht in dieser Kunst einen viel höheren Grad der Vollkommenheit. Mit Hilfe seines Willens erlangt er einen Grad von Gleichgewicht und mentaler Festigkeit, der denen, die sich gestatten, von dem mentalen Pendel der Stimmungen und Gefühle vor- und zurückgeschwungen zu werden, fast unmöglich und unglaublich erscheint.

Jede denkende Person, welche erkennt, dass die meisten Menschen Kreaturen ihrer Stimmungen, Gefühle und Gemütsbewegungen sind und nur sehr geringe Selbstbeherrschung haben, wird die Wichtigkeit mentalen Gleichgewichts richtig einschätzen. Wenn ihr kurze Zeit innehaltet und nachdenkt, werdet ihr erkennen, wie oft euch diese rhythmischen Schwünge in euerem Leben beeinflusst haben – wie einer Periode von Begeisterung unausbleiblich entgegengesetzte Gefühle und Niedergeschlagenheit folgten. Gleicherweise folgten euren mutigen Stimmungen Perioden der Furcht. Und so ist es mit den meisten Menschen immer gewesen – Gezeiten der Gefühle sind mit ihnen gestiegen und gefallen, ohne dass sie den Grund oder die Ursache der mentalen Phänomene auch nur vermutet hätten.

Ein Verständnis des Wirkens dieses Prinzips wird uns den Schlüssel zur Herrschaft über diese rhythmischen Schwünge der Gefühle geben, wird uns befähigen, uns selbst besser zu kennen und es zu vermeiden, von diesem Ein- und Ausfluten mitgerissen zu werden. Der Wille selbst ist den bewussten Manifestationen dieses Prinzips überlegen, obwohl das Prinzip selbst niemals zerstört werden kann. Wir können seinen Wirkungen ausweichen, dessen ungeachtet aber wirkt das Prinzip. Das Pendel schwingt immer, wir können es aber vermeiden, von ihm mitgerissen zu werden.

Es gibt noch andere Grundzüge der Wirksamkeit dieses Prinzips vom Rhythmus, von welchen wir jetzt sprechen wollen; wir meinen das Gesetz der Kompensation.

Eine der Bedeutungen des Wortes „Kompensation“ ist „Ausgleichung“, und in diesem Sinne wird es von den Hermetikern angewendet. Auf das Gesetz der Kompensation bezieht sich das Kybalion, wenn es sagt: „Der Ausschlag des Pendels nach rechts ist das Maß für den Ausschlag nach links; Rhythmus gleicht aus.“

Das Gesetz der Kompensation besagt, dass der Schwung in einer Richtung den Schwung in der entgegengesetzten Richtung oder zum entgegengesetzten Pol bestimmt – der eine hält dem andern das Gleichgewicht. Auf der physischen Ebene sehen wir viele Beispiele für dieses Gesetz. Der Glockenschwengel schwingt bis zu einem gewissen Abstand nach rechts und dann bis zum gleichen Abstand nach links. Die Jahreszeiten halten sich das Gleichgewicht. Die Gezeiten folgen demselben Gesetz. Und dasselbe Gesetz manifestiert sich in allen rhythmischen Phänomenen.

Das Pendel, das in einer Richtung kurz schwingt, kann auch in der anderen Richtung nur kurz schwingen; während ein weiter Schwung nach rechts unabänderlich einen weiten Schwung nach links bedeutet. Ein Gegenstand, der zu einer gewissen Höhe hochgeworfen wird, hat auf seinem Rückweg die gleiche Entfernung zurückzulegen. Die Kraft, mit der ein Geschoß eine Meile in die Höhe geschossen wurde, wird wieder hervorgebracht, wenn das Geschoß zur Erde zurückkehrt. Dieses Gesetz ist auf der physischen Ebene konstant…

Die Hermetiker gehen aber noch weiter. Sie lehren, dass die mentalen Zustände des Menschen demselben Gesetz unterworfen sind. Der Mensch, der sich stark freuen kann, kann auch stark leiden, während derjenige, der nur wenig Schmerz empfindet, auch nur geringer Freude fähig ist.

… Die Regel ist, dass in jedem Individuum die Fähigkeit für Schmerz und Freude ausgeglichen ist. Das Gesetz der Kompensation ist hier in voller Wirksamkeit.

Die Hermetiker gehen aber noch weiter. Sie lehren, dass, ehe man fähig wird, einen gewissen Grad von Freude zu genießen, man vorher – verhältnismäßig – ebenso weit gegen den anderen Pol der Gefühle geschwungen haben muss. Sie halten aber daran fest, dass in dieser Sache das Negative dem Positiven vorausgeht; das heißt, wenn man einen gewissen Grad von Freude empfindet, folgt nicht daraus, dass man noch „dafür bezahlen müsse“ durch einen entsprechenden Grad von Schmerz. Im Gegenteil, nach dem Gesetz der Kompensation ist die Freude der rhythmische Schwung, der einem vorhergegangenen Grad von Schmerz folgt, den man entweder in diesem Leben oder in einer früheren Inkarnation erfahren hat. Das wirft ein neues Licht auf das Problem des Leidens. Die Hermetiker betrachten die Kette der Leben als zusammenhängend; sie glauben, dass sie einen Teil eines Lebens des Individuums bildet, sodass folglich der rhythmische Schwung auf diese Weise verstanden wird. Wenn nicht die Wahrheit der Reinkarnation zugegeben würde, wäre das Gesetz der Kompensation ohne Sinn.

Aber die Hermetiker lehren, dass die Meister oder fortgeschrittenen Schüler fähig sind, durch den oben erwähnten Prozess der Neutralisation dem Schwung gegen den Pol des Leidens bis zu einem hohen Grade zu entgehen. Dadurch, dass sich das Ego auf eine höhere Ebene erhebt, vermeidet es viele Erfahrungen, die zu jenem kommen, der auf dem niederen Ebenen weilt.

Das Gesetz der Kompensation spielt eine wichtige Rolle im Leben von Männern und Frauen. Man wird bemerken, dass man im allgemeinen den Preis für alles, was man besitzt oder nicht besitzt, zahlt. Hat man ein Ding, so fehlt einem ein anderes – das Gleichgewicht ist auffallend. Niemand kann gleichzeitig „seinen Pfennig behalten und den Kuchen bekommen“. Alles hat seine erfreulichen und seine unerfreulichen Seiten. Die Dinge, die man erlangt, werden bezahlt durch Dinge, die man verliert. Der Reiche besitzt viel, was dem Armen fehlt während der Arme oft Dinge besitzt, die für den Reichen unerreichbar sind….

Und so ist es überall im Leben. Das Gesetz der Kompensation ist immer wirksam, ist immer bestrebt, auszugleichen, und hat – mit der Zeit – immer Erfolg, wenn auch für den Rückschwung des rhythmischen Pendels mehrere Leben nötig sein mögen.

– Die drei Eingeweihten

Im Corpus Hermeticum finden wir:

3 … Solange nämlich die Materie, mein Kind, unkörperlich war, war sie ungeordnet. Denn sie hat doch auch hier neben den anderen kleinen Eigenschaften die ihr eigene (Unordnung): die Eigenschaft von Wachsen und Abnehmen. Letzteres nennen die Menschen ‚Tod‘.

4 Diese Unordnung existiert bei den irdischen Lebewesen. Die Körper der Himmlischen haben eine Ordnung, die sie von Anfang an vom Vater zugewiesen bekommen haben. Diese aber wird von der Wiedererneuerung jedes Einzelnen aufrechterhalten.

– Corpus Hermeticum, VIII: Dass nichts, was ist, vergeht, sondern dass nur Verführte Veränderungen als Verderben und Tod bezeichnen, Vers 3-4, übers.v. Karl-Gottfried Eckart

7 … [Das Schlechte] folgt (erst) dem Werden als Leiden wie der Grünspan der Bronze und der Schmutz dem Körper. Der Kupferschmied hat ja den Grünspan nicht erfunden, die Eltern nicht den Schmutz, Gott nicht die Schlechtigkeit. Die Fortdauer des Werdens lässt sie gewissermaßen aufblühen. Deshalb hat Gott die Veränderung erfunden, damit sie eine Reinigung des Werdens sei.

– Corpus Hermeticum, XIV: Von Hermes Trismegistos an Asklepios: Sei aufmerksam!, Vers 7, übers.v. Karl-Gottfried Eckart

2 … Das Werden des Menschen ist (der Anfang) des Sterbens; das Sterben des Menschen ist der Anfang des Werdens;

– Corpus Hermeticum, Stobaeus-Fragment XI, Vers 2, übers.v. Karl-Gottfried Eckart

2 Bei allem, das ein Werden hat, folgt notwendigerweise die Veränderung. Das Gewordene wird zu einer Größe, das Gewordene hat Wachstum. Allem Gewachsenen folgt Verkleinern, dem Verkleinem Vergehen.

– Corpus Hermeticum, Stobaeus-Fragment XX, Vers 2, übers.v. Karl-Gottfried Eckart

John Baines schreibt:

alles unterliegt einer rhythmischen Schwingung, die sich zwischen zwei Polen manifestiert… Die Schöpfung erfolgt entsprechend dem Pendel; es gibt ein Ausströmen des Alls, dann folgt seine Absorption. (173)

Die Funktionen des Herzens, der Atmung, des Schlafes und der Wachsamkeit werden alle durch das Gesetz des Pendels bestimmt. (175)

Das Prinzip des Rhythmus und das Prinzip der Polarität … sind die Kräfte, die den Prozess des Lebens aufrechterhalten, denn das Leben ist stets eine Kraft, die sich abwechselnd und rhythmisch zwischen zwei Polen bewegt. (174)

Das Gesetz des Pendels vervollständigt das Wissen um die mentale Transmutation, da es uns lehrt, dass es möglich ist, sich über die rhythmische Oszillation zu erheben, indem man sich an dem Pol polarisiert, an dem man zu bleiben wünscht, und so vermeidet, von Ebbe und Flut fortgetragen zu werden. (178)

Nur wer in der Lage ist, sich über das Prinzip des Rhythmus zu erheben, kann sich als wirklich frei betrachten. (180 f.)

— John Baines, The Stellar Man

Wer sich von äußerlichen Ereignissen beeinflussen lässt, sich von seinen Gefühlen abhängig macht usw., treibt wie ein Korken auf den Wellen des Ozeans. Es kann manchmal nützlich sein, keine Energie darauf zu verschwenden, gegen die Flut hinausfahren zu wollen, aber am besten ist es, sich über diese Elemente zu erheben bzw. zu versuchen, neutral zu bleiben.

Die indischen Weisen haben wieder und wieder darauf bestanden – genau wie die Hermetiker – dass auf diese Weise selbst der Tod zu verhindern ist.

Literatur:

  • Das Kybalion / Die drei Eingeweihten
  • Das Corpus Hermeticum, einschl. d. Fragmente d. Stobaeus / a.d.Griech.v. Karl-Gottfried Eckart
  • The Stellar Man / John Baines

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