Herleitung des Naturrechts aus dem Buddhismus.
Wir haben Naturrecht aus dem Gewissen und dem persönlichen Empfinden begründet (Ep.12/17), aus dem Eigentum am eigenen Körper (Ep.19), aus der Nützlichkeit (Ep.21), aus dem Weltbild des Einsseins (Ep.23/24) aus rechtsphilosophischen Überlegungen (Ep.26) und aus dem Neuen Testament (Ep.47).
Nicht nur das Christentum, auch die meisten anderen Religionen beinhalten einen Kern wahren hermetischen Wissens, welcher bei korrekter Interpretation die Begründung des Naturrechts erlaubt. Schauen wir uns heute also die Lehren des indischen Prinzen Gautama Siddhartha von vor 2500 Jahren an.
Wie alle seine Konkurrenten handelt es sich beim Buddhismus um eine Denkrichtung, die eine Erklärung für das miserable Lebensgefühl großer Teile der Bevölkerung sowie einen Weg zur Beendigung menschlicher Misere anbietet. Er beantwortet also u.a. die beiden Fragen: Warum geht es mir so schlecht?, und: Wie komme ich hier raus?
Wie allen seine Konkurrenten liegt dem Buddhismus veritables esoterisches Wissen um die Zusammenhänge im Kosmos, die Stellung des Menschen in ihm und die psychologischen und sozialen Gesetzmäßigkeiten in menschlichen Angelegenheiten zugrunde. Wie bei allen seinen Konkurrenten wurde frühzeitig viel von diesem Wissen unter Fehlinterpretationen, Dogmen und Ritualen begraben. Aus der Weisheitslehre des Buddha wurde die exoterische Volksreligion des Buddhismus, welche sich – wie bei allen konkurrierenden Glaubenssystemen – in schismatischen Auseinandersetzungen über theologische Feinheiten zerfasert.
Ungleich anderen Religionen blieb viel von der Kernsubstanz erhalten, die effektiv dazu beiträgt, naturrechtliche Lehren in den Alltag integrieren zu können. Zunächst jedoch einige Definitionen, die wir hierfür brauchen:
Definitionen
Naturrecht besteht aus universellen, nicht von Menschen geschaffenen, bindenden und unveränderlichen Prinzipien, welche die Konsequenzen des Verhaltens intelligenter Wesen beherrschen, die fähig sind, den Unterschied zwischen schädlichem und unschädlichem Verhalten zu begreifen.
Das Wesen muss sein Gewissen mit objektiver Moral in Einklang bringen. Es muss unzweideutig wissen, welche Verhaltensweisen richtig sind, weil sie anderen fühlenden Wesen keinen Schaden anrichten, bzw. welche Verhaltensweisen falsch sind, weil sie anderen fühlenden Wesen Schaden zufügen.
Naturrecht ist das Wissen, das die Mitglieder einer Gesellschaft notwendigerweise brauchen, um langfristig Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und allgemeines Wohlergehen in ihr zu erreichen. Die verbreitete Verletzung von Naturrecht führt langfristig zu kollektiver Unfreiheit, Ungerechtigkeit, Unfrieden und Leid. Stets und überall.
Ein Recht ist jede Handlung, die anderen fühlenden Wesen keinen Schaden initiiert. Alle Rechte sind individuelle Rechte. Es gibt keine Gruppenrechte.
Schaden entsteht durch Kraftanwendung oder Zwang. Schaden besteht in Täuschung, Diebstahl, Eindringen in den Lebensbereich, Körperverletzung, Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, Mord. sowie Zwang, d.h. die Drohung, Schaden anzurichten und damit die Entscheidungsfreiheit zu nehmen. Alle diese Rechtsverletzungen sind Eigentumsdelikte, d.h. es wird dem Opfer etwas genommen, das ihm gehört. Ein anderes Wort hierfür ist Gewalt.
Notwehr ist Kraftanwendung zur Abwehr von Gewalt oder deren Androhung.
Nun zum Buddhismus.
Jeder Mensch, egal wie gebildet, besitzt die Fähigkeit, sich selbst ebenso wie seine Mitwelt zu beobachten. Ausgehend von seinen Beobachtungen erkannte Siddhartha die folgenden Dinge. Anschließend lehrte er sie seinen Begleitern. Von Bedeutung hierbei ist, dass es sich nicht um Glaubenssätze handelt, sondern um Hinweise, denen der Schüler besondere Beachtung schenken sollte, um schnelle Fortschritte auf seinem Pfad zu machen.
Drei Merkmale
Das Sein des Menschen in der Welt hat drei Merkmale:
Anatta (von An-Atma, nicht-Sein) bezeichnet die Veränderlichkeit unserer Persönlichkeit, die Abwesenheit eines Wesenskerns. Wer wir wahrlich sind, lässt sich nicht festlegen. Wir befinden uns in ständigem Wandel – wie die ganze Welt.
Anicca (von Anitya, unbegrenzt) steht für die Vergänglichkeit allen Seins. Anhaftung an einen bestimmten Zustand ist zwecklos; sie führt nur zur Leiderfahrung. Loslassen zu können bedeutet frei zu werden.
Dukkha (Leiden) bedeutet zu keiner Befriedigung fähig zu sein bzw. unfähig zu sein, etwas zu ertragen oder auszuhalten.
Fünf Skandhas
Es handelt sich um die ontologischen Anteile des menschlichen Daseins, d.h. die Quellen unseres vermeintlichen Wissens über die Welt:
- die Sinneswahrnehmungen
- fünf Sinne & das Denken
- die Gefühle
- angenehm, unangenehm, neutral
- die Wahrnehmung
- Begriffsbildung
- die Geistesformationen
- Willensregungen, Absichten, Wünsche, Interessen
- das Bewusstsein
- Weltbild, Selbstbild, Wahrheit
Indem wir uns mit diesen veränderlichen, vergänglichen unzufriedenstellenden, unser vermeintliches Selbst definierenden Elementen identifizieren (ihnen anhaften), erzeugen wir Leid. Denn die sinnliche Welt ist immer im Wandel, unfähig, uns wirklich zu erfüllen oder dauerhaft glücklich zu machen.
Fünf Bereiche des Leids durch Anhaftung
- Geburt ist Leiden;
- Altern ist Leiden;
- Krankheit ist Leiden;
- Trennung vom Geliebten ist Leiden;
- nicht zu bekommen, was man will, ist Leiden.
Vier edle Wahrheiten bzw. Zwölf Einsichten
- Da ist Leid. [ohne es mein zu machen; also nicht: ich leide]
- Es sollte verstanden werden.
- Weil unsere 5-Sinne-Wahrnehmung grundsätzlich unbefriedigend ist, leiden wir; wir suchen nach etwas jenseits davon. Das öffnet uns für Höheres.
- Es wurde verstanden, dass das Leben im Daseinskreislauf leidvoll ist.
- Es sollte verstanden werden.
- Da ist eine Ursache für das Leid.
- Sie sollte verstanden werden.
- Es wurde verstanden, dass Selbstsucht, Ablehnung und Illusion die Ursachen des Leids sind.
- Das Leid kann ein Ende haben.
- Das sollte verstanden werden.
- Es wurde verstanden, dass mit den Ursachen des Leids auch das Leid endet.
- Die Ursachen des Leids können beseitigt werden.
- Das sollte verstanden werden.
- Es wurde verstanden, dass die Ursachen des Leids über den edlen achtfachen Pfad entkräftet werden können.
Der Buddhismus stellt fest, dass jeder Handlung eine Haltung, ein Verständnis, ein Gedanke vorausgeht, und diesen eine Kenntnisnahme. „Es wurde verstanden…“ bedeutet, dass die Serie aus korrekter Kenntnisnahme und korrekten inneren Regungen in korrekten Handlungen bzw. Unterlassungen mündet.
Jede der vier Wahrheiten besteht daher aus drei Einsichten. Es handelt sich um den Trivium-Prozess der Erkenntnisgewinnung: Grammatik, Logik, Rhetorik.
Der ursprüngliche Buddhismus ist also keine unwidersprochen zu glaubende Doktrin, sondern appelliert an Beobachtung und Verstand, um daraus eine richtige Lebensweise abzuleiten und zu praktizieren. Der Buddha empfiehlt diesbezüglich folgendes:
Der edle achtfache Pfad
Acht miteinander verflochtene Verhaltens- und Denkregeln, die gleichzeitig kultiviert werden sollten. Sie sind in drei Bereiche eingeteilt: Regeln der Weisheit, der Tugend und der Vertiefung.
- Rechte Sichtweise
- Recht iSv Richtig statt falsch, oder auch auch iSv vollständig, vollkommen;
- Einsicht, Anschauung, Erkenntnis
- ist Weisheit
- Bezüglich was? Die vier edlen Wahrheiten über das Leiden, den achtfachen Pfad und andere Grundwahrheiten des Buddhismus.
- Rechte Intention
- Gesinnung, Absicht
- ist Weisheit
- Bezüglich was? Heilsame Gedanken. Entschlossene Abkehr von gierigen, schädigenden und feindseligen inneren Regungen.
- Rechte Rede
- ist eine Tugend
- Bezüglich was? Abkehr von Klatsch, verbalem Angriff, Wahrheitsverfälschung und -leugnung.
- Um Illusion & Zwist zu beenden.
- Rechtes Handeln
- ist eine Tugend
- Bezüglich was? Vermeidung von Schadzufügung und Ausschweifungen = fünf Silas:
- Tötung
- Diebstahl
- sexuelles Fehlverhalten
- Lüge
- Rauschmittel, die das Gewissen beeinträchtigen
- 8 Silas: +Essen nach Mittag, Tanz/Musik/Unterhaltung/Mode, bequemes sich Betten
- 10 Silas: +sexuelle Aktivität, Annahme von Zahlungsmitteln
- Rechter Lebensunterhalt
- ist eine Tugend
- Bezüglich was? Kein Waffenhandel, Menschen-/Tierhandel, Tierzucht/Fleischhandel, Drogenhandel, Gifthandel, im weiteren Sinn jeder Erwerb, der anderen Schaden zufügt.
- Rechtes Bestreben
- Üben, Anstrengen
- ist eine Form der Vertiefung
- Bezüglich was?
- Das Entstehen schlechter Dinge zu vermeiden
- Bereits entstandenes Schlechtes zu überwinden
- wünschenswerte Zustände zu entwickeln
- wünschenswerte Zustände zu bewahren
- Rechte Achtsamkeit
- Bewusstheit
- ist eine Form der Vertiefung
- Bezüglich was? Körperfunktionen, Sinnesreize, Wahrnehmung, Emotionen, Denken.
- Zum Zwecke des Präsent-Seins
- Rechte Konzentration
- Sammlung, Versenkung
- ist eine Form der Vertiefung
- Bezüglich was? Den Geist auf eine einzige Sache zu fokussieren, durch Kontemplation oder Meditation.
- Um das Ego, den Geist unter Kontrolle zu behalten
Wer den Pfad des Buddha vollständig durchläuft, kann das Leid in sich selbst – und durch Unterlassung unrechten Handelns teilweise auch bei anderen – beenden. Er findet zu dem Zustand, den man als Erleuchtung bezeichnet. In vielerlei Hinsicht gleicht dieser Pfad den christlichen oder philosophischen Naturrechtsbegründungen. So sagt der amerikanische Erleuchtungslehrer Adyashanti:
Erleuchtung ist ein destruktiver Prozess. Sie hat nichts damit zu tun, besser zu werden oder glücklicher zu sein. Erleuchtung ist das Auseinanderbrechen der Unwahrheit. Sie besteht darin, die verlogene Fassade zu durchschauen. Sie ist das vollständige Ausradieren von allem, was wir für wahr gehalten haben. – Adyashanti
Was östliche Lehren wie den Buddhismus, den Taoismus oder den Hinduismus von westlichen Naturrechtsphilosophien unterscheidet ist die Strategie. Zwar haben Ost wie West sich das Ende des Leids – also des psychischen Schmerzes – auf die Fahnen geschrieben. Beide benennen als Ursache die illusionäre Weltsicht der Separation, welche das Ego als das wahre Selbst des Menschen verkennt. Die Furcht des Ego vor Beschädigung und Nicht-Sein führt zu schädlichem Verhalten.
Doch während im Westen das Individuum dazu aufgerufen ist, als souveräner Herr seiner Selbst persönlich Verantwortung für die Beendigung physischen Schadens bzw. die Herstellung sozialer Harmonie zu übernehmen, sind dem Osten diese Dinge gleichgültig. Zerstörungen und Konflikte sind in östlichen Weisheitstraditionen nur deshalb unerwünscht, weil sie in nicht-erleuchteten Personen psychischen Schmerz – Leid – verursachen. Es ist dieses Leid, das beendet werden muss. Der Buddhismus erkennt dessen Ursachen völlig korrekt in der Anhaftung an falsche, schädliche Vorstellungen von der Wirklichkeit. Seine Strategie zur Beendigung des Leids besteht in der Auflösung des Egos. Nicht nur wird das Individuum dann keinen Schaden mehr in der materiellen und sozialen Welt anrichten, sondern es wird gleichgültig gegenüber ihm zugefügtem Schaden. Der Erleuchtete ist frei von Furcht und damit frei in seinem Handeln, aber er beansprucht kein Eigentum, weder über seinen Körper noch über seine Besitztümer, die ihm ja Objekte des Leids sind, und wird daher niemals Kraft zu deren Verteidigung einsetzen.
Einzelne Richtungen östlicher Weisheit – auch des Buddhismus – haben dazu durchaus andere Auffassungen. Erinnern wir uns, dass der Konfuzianist Sun-Tzu ein Grundlagenwerk zur „Kriegskunst“ verfasste, dass Asien eine reiche Fülle an Kampfsportarten hervorgebracht hat und dass es erst Zen-Buddhismus war, der japanischen Samurai und Soldaten zu ihrem Ruf als furchtlose, den Tod verachtende Kampfmaschinen verhalf.
Aus meiner Sicht geht die Verneinung der materiellen Welt als blanke Illusion zu weit. Es gibt die Welt der Körper, weil sie in der Schöpfung des ALLS von Bedeutung ist. Dass sie letztlich „nur“ als Gedanke im Geist Gottes, des ALLS, existiert, bedeutet nicht, dass wir sie missachten können. Wir können uns nicht aus ihr verabschieden, denn wir sind unentrinnbar ein Teil von ihr und damit ihren Gesetzen unterworfen. Diese zu erkennen und uns aus freien Stücken mit ihnen in Einklang zu bringen ist nicht nur für uns als Wesen nützlich; Rechtes Handeln im Sinne westlichen Naturrechts bedeutet kosmische Harmonie aktiv zu fördern und erfüllt so die alte Forderung der Weltreligionen, sich SEINEM Willen, dem Willen des Schöpfers zu fügen.
Literatur:
- The Four Noble Truths and the Eightfold Path / Paul Carus. – Jazzybee, 2012
- Das Herz von Buddhas Lehre: Leiden verwandeln – die Praxis des glücklichen Lebens / Thich Nhat Hanh. – Herder, 1998
- Die Vier Edlen Wahrheiten: Texte des ursprünglichen Buddhismus / hg.v. Klaus Mylius. – Reclam, 1998