Liebe
Diverse Kulturen verschiedener Zeiten hatten zahlreiche Wörter für das bunte Gemisch an Begriffen, die wir schlicht „Liebe“ nennen. Im Sanskrit gibt es u.a Priya “teuer, kostbar” und Priti “Liebe, Gunst”.
In modernen europäischen Sprachen müssen wir schon etwas genauer hinhören, wenn wir erfahren möchten, was unser Gegenüber meint, wenn es von Liebe spricht.
Freud und seine naturalistische Psychoanalyse sehen als Ursache der Liebe ausschließlich den Geschlechtstrieb. Seine Funktion ist die Arterhaltung (I.Ggs zum Selbsterhaltungstrieb). Für Freud tritt anstelle des Begriffs der Liebe jener der Libido, des Lusttriebs. Er nimmt die Formen der Ich-Libido (Narzissmus) und der Objekt-Libido an.
Auch für Aristoteles ist die Selbstliebe die Grundlage für alle anderen Formen von Liebe. I.Ggs zu Freud reduziert Aristoteles Liebe jedoch nicht auf einen bio-psycho-mechanistischen Trieb.
Brockhaus: Liebe ist die mit der menschl. Existenz gegebene Fähigkeit, eine intensive gefühlsmäßige, v. a. positiv erlebte Beziehung zu einem Menschen zu entwickeln; eine Form affektiver Zuwendung zu anderen, die in unterschiedl. Epochen und Kulturen verschieden erlebt, aufgefaßt und durch Verhaltensregeln bestimmt wird.
Das Wort Liebe umfasst – wie wir alle wissen – eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen. Schon der Sprachgebrauch (Mutter-, Kindes-, Nächsten-, Gottes-, aber auch Natur-, Tier-, Selbstliebe) zeigt, dass es nicht möglich ist, alles als Liebe Bezeichnete aus dem Geschlechtstrieb abzuleiten. Weil es aufgrund rhetorischer Ungenauigkeit bzw. wegen der historisch zustande gekommenen Vermengung von Begriffen in einem einzigen Wort ständig zu sprachlich bedingten Misskonzeptionen kommt, entstehen mannigfaltige Theorien über Herkunft, Wesen, Zweck und Sinn der Liebe. Darum ist es für ihr Verständnis nützlich, nicht bei Freud oder sonst einem Theoretiker stehenzubleiben.
Dann finden wir relativ schnell drei fundamental verschiedene Auffassungen von Liebe, der drei fundamental verschiedene Weltbilder vorausgehen: Sie sind entweder im Materialismus (alles ist Materie) begründet oder im Spiritualismus (alles ist Spirit) oder in einer holistischen Sichtweise (Geist und Materie sind integrale Bestandteile des Seins).
Es ist die Absicht dieses Entwurfs, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, d.h. psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer, materieller Teile und sie damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen. – Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie (1895)
Als Quantitäten wird alles verstanden, was dem allgemeinen Bewegungssatz unterworfen ist; als materielle Teile nimmt Freud die Neuronen an. Somit ist Psychologie für ihn das, was man heute mit Neurologie bezeichnet: die elektrochemischen Vorgänge des zentralen Nervensystems.
Dem gegenüber sagt C. G. Jung:
Die einzigen Menschen, denen ich nicht helfen konnte, waren diejenigen, die an keine höhere Macht außerhalb ihrer selbst glauben. – C. G. Jung
Noch offensichtlicher wird der Gegensatz zwischen den beiden Lagern, wenn man sich den Zusammenhang zwischen Liebe und Macht anschaut. Für Freud ist Liebe lediglich der kulturell gezügelte Ausdruck des Geschlechtstriebs (Libido), wenn er sagt:
…dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, […] sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. – Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930)
… während Jung Libido als eine innere Kraft, ein Streben-nach-etwas verstand:
Wo die Liebe herrscht, da gibt es keinen Machtwillen. Das eine ist der Schatten des andern. – C. G. Jung: Über die Psychologie des Unbewussten
Wir haben dank neurologischer Forschungen Grund zu der Annahme, dass die beiden Weltbilder von Materialismus und Spiritualismus den unterschiedlichen Wirkbereichen der beiden Gehirnhälften entsprechen, während holistische Betrachtungsweisen der ausgewogenen Aktivierung beider Hemisphären entspringen (McGilchrist).
Abseits der Freudschen naturalistischen Psychoanalyse unterscheidet man zwischen Geschlechtstrieb und geistiger Liebe. Letztere ist sowohl Gemütsbewegung (Affekt) als auch ein Willensakt, der auf das Gute gerichtet ist. Sie macht i.Ggs zur „blinden“ Libido „sehend“, sind u.a. Plato und Aristoteles der Meinung.
Einig ist man sich darüber, dass Liebe eine gemeinschaftsbildende Funktion besitzt. Für Freud deshalb, weil sie das Verhalten des triebgesteuerten Individuums in geordnete, weniger schädliche Bahnen lenkt; für Jung und andere deshalb, weil sie das natürliche Verlangen des Individuums nach dem Du bzw. Wir zum Ausdruck bringt.
Brockhaus: …Ihre besondere Eigenart gewinnt die als L. bezeichnete zwischenmenschl. Beziehung dadurch, daß ihr Wert, über eine Zweck-Mittel-Überlegung hinausgehend, in der Existenz des anderen (E. Fromm) oder in der L. selbst erfahren werden kann. L. ist so weder dem Subjekt noch seinem Gegenüber allein zuzuordnen, sondern hat ihren Ort in einem zwischen den Liebenden entstehenden Vorstellungs- und Erfahrungsraum, der seinerseits durch seine dialogische Anlage (M. Buber) die Existenz der Beteiligten verändert oder bestimmt.
In der Naturrechtslehre nach Passio ist die geistige Liebe – die Liebe zur Wahrheit und somit das Streben nach höherem Bewusstsein – die Voraussetzung für die Verwirklichung von gesellschaftlicher Ordnung (ep.23). Hierin trifft er sich mit den alten Griechen sowie mit Kant, der einst meinte: „Man verliebt sich nur in den Schein, man liebt aber die Wahrheit.“
Klassische Einteilung
Die antike griechische Philosophie kannte drei Hauptformen der Liebe: Agape, Eros und Philia. Es gab jedoch noch weitere Wörter für Begriffe, die wir heute in den Bereich „Liebe“ sortieren.
Agape
Im Neuen Testament bezeichnete man mit diesem Wort die Liebe zwischen Gott und den Menschen. Agape ist nicht durch das Verlangen nach ihrem Gegenstand bestimmt, sondern besteht wesentlich in Verzicht und Hingabe. Sie ist eine von Wohlwollen geprägte, auf den Anderen gerichtete Liebe und resultiert in der christlich geprägten Ethik in der Haltung der Nächstenliebe.
Daran angelehnt nannte man in frühchristl. Gemeinden auch die quasi-gottesdienstl. Armenspeisung („Liebesmahl“) Agape.
Lat.: Caritas, Gottes- u. Nächstenliebe, edle Liebe.
Eine Entsprechung hat das Wort auch im Sanskrit: Bhakti – Liebe zum Göttlichen. Vergeistigte intensive Liebe.
Ich würde außerdem den modernen Begriff des Interbeing (vietnam.: Tiep Hien) hier verorten.
Das Wort Agape wird seit dem Altertum von einer Reihe Autoren aufgegriffen, vom Philosophen Charles S. Peirce über den Esoteriklehrer Thorwald Dethlefsen und den Thelema-Gründer Aleister Crowley bis zu Naturrechtslehrer Mark Passio. Es verwundert daher nicht dass sich in ihm Begriffe wie Gottesliebe, Nächstenliebe und Liebe zur so-seienden Welt und damit zur Wissens- und Bewusstseinserweiterung vermischen.
Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt – Aristoteles
Insofern wir alle eins sind, können wir jeden auf die gleiche Weise im Sinne der Nächstenliebe lieben. Aber insofern wir auch alle voneinander verschieden sind, setzt die erotische Liebe gewisse spezifische, höchst individuelle Elemente voraus, wie sie nur zwischen gewissen Menschen und keineswegs zwischen allen zu finden sind. – Erich Fromm: Die Kunst des Liebens
Eros
Griech. Gott der geschlechtlichen Liebe, Sohn v. Aphrodite (Liebe) & Ares (Krieg). Darst.a.geflüg. Knabe m. Pfeil u. Bogen. Er verkörperte das Prinzip der sinnlichen Anziehung und fühlte sich zur Königstochter Psyche hingezogen (griech.: Hauch, Leben, Seele, nach dem Tod bleibendes Ebenbild der Person).
Bei Plato ist Eros die drängende Liebe zu Erkenntnis und Weisheit.
Der pädagogische Eros bezeichnet die uneigennützige Beziehung des Lehrers zum Heranwachsenden, um dessen Selbstwerdung zu unterstützen.
Beim Eros handelt es sich also um eine heftig begehrende Form der Hingezogenheit zu einem Objekt der Liebe. Bei diesem kann es sich sowohl um einen Menschen als auch um eine geistige Vorstellung (Idee) handeln. Heute verbinden wir diese Liebe fast ausschließlich mit körperlicher Anziehung (Erotik).
Ludus
Spielerische Form der Liebe.
„Warum hast du mir dann gesagt, daß ich dir teurer bin als alles auf der Welt?“ – Seine Mundwinkel senkten sich mürrisch. „Es ist sehr töricht, liebes Kind, alles wörtlich zu nehmen, was ein Mann der Frau sagt, in die er verliebt ist!” – „War es dir nicht ernst damit?“ – „Im Augenblick sicher.” – Somerset Maugham: Der bunte Schleier
Mania
Griech.: Raserei, Wahnsinn. Bez.f. alles Außersichsein (Affektivitat, Besessenheit, Ekstase, Entrückung, Raserei, Verrücktheit); unwiderstehliche Attraktion.
Er wusste nicht, was von einem Mann auf eine Frau oder von dieser auf einen Mann übersprang, das einen von beiden zum Sklaven machte. Man nannte es Sex-Instinkt, aber wenn es nur das gewesen war, verstand er nicht, warum dies eine so starke Anziehung zu der einen und nicht der anderen Person erzeugte. Es war unwiderstehlich. Der Geist kam nicht dagegen an. Freundschaft, Dankbarkeit, Interesse waren dem gegenüber kraftlos. – Somerset Maugham
Philia
gegenseitige, freundschaftliche Liebe. Gott Philotes. Lat.: Amitica
Platon unterscheidet drei Arten der Philia: die bedingte, die vergnügte und die anerkennende, d.h. sie ist nutzbringend, lustbringend oder besteht um des Anderen willen.
Für Aristoteles bedeutet sie das gemeinsame Streben zu einem hohen Ziel und beglückendes Verbundensein in der Suche nach Tugend oder Weisheit.
Wenn auf Erden die Liebe herrschte, wären alle Gesetze entbehrlich. – Aristoteles
D.h. wenn diese Form der Liebe verbreiteter praktiziert würde, bedürfte es keiner Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollmechanismen.
Im Neuen Testament wird das Wort synonym zu Agape verwendet.
Philautia
Selbstliebe. Lt Aristoteles der Ursprung aller anderen Arten der Liebe. Es gibt zwei Arten: jene, die sich selbst lieben, um einen ungerechtfertigten persönlichen Gewinn zu erzielen (Egoisten, Narzissten), und solche, die sich (freundschaftlich) selbst lieben, um tugendhafte Prinzipien zu erreichen. Sie sind tugendhaft, denn sie tun das Richtige aus den richtigen Gründen. (s. Aristoteles, s.a. Ep.28)
Storge
Familiale Liebe, natürlich-instinktive Hingezogenheit, auch, aber nicht nur, zwischen Eltern und Kind.
Die Liebe ist aufrichtiger, wenn sie aus der Zuneigung und nicht aus der Begierde erwächst; sie hinterlässt dann auch keine Wunden. – Lawrence Durrell: Justine
Xenia
Xenia bezeichnete im antiken Griechenland Gastfreundschaft, entgegenkommende Offenheit gegenüber Fremden oder auch ritualisiertes Willkommenheißen durch Geschenke, Bewirtung, Beherbergung und Schutz. Man musste damit rechnen, dass der Gast ein Gott in menschlicher Gestalt war. Dennoch war er wenn nötig zu Gegenleistung in gleicher Münze verpflichtet; er musste freundlich, bescheiden und unterhaltend sein.
Platonische Liebe
Wikipedia: Platon sieht in der Liebe (Eros) ein Streben des Liebenden, das diesen stets vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Vereinzelten zum Umfassenden führen soll. Das geschieht der platonischen Theorie zufolge, wenn der Liebende Philosoph ist oder wird und als solcher auf eine von Platon beschriebene Weise mit der Liebe umgeht. Der im Sinne Platons Liebende wählt bewusst einen philosophischen Weg, der ihn zu immer höheren Erkenntnissen führen soll. Er richtet den erotischen Drang im Lauf eines gestuften Erkenntnisprozesses auf immer umfassendere, allgemeinere, höherrangige und daher lohnendere Objekte. Dabei erweist sich schließlich die allgemeinste auf diesem Weg erreichbare Wirklichkeit, die Platon als das Schöne an sich bestimmt, als das würdigste Objekt. Dort endet die Suche des Liebenden, denn erst dort findet er nach dieser Lehre vollkommene Erfüllung seines Strebens.
Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet Platonische Liebe dagegen nur eine von sinnlichen Begierden bzw. sexuellen Interaktionen freie Liebe. Wir meinen damit entweder die wohlwollende, begehrlose Liebe oder aber die – aus welchen Gründen auch immer – sexuell enthaltsame Beziehung.
Moderne Liebestheorien
- Die Farbradtheorie der Liebe (Colour Wheel of Love) ist der Versuch des kanadischen Psychologen John Alan Lee, die sechs in der Antike identifizierten Liebesweisen in eine Systematik zu bringen, aus andere uns bekannte Typen als Mischformen entstehen. Lee definierte drei primäre (Eros, Ludus und Storge), drei sekundäre (Mania, Pragma und Agape) und neun tertiäre Liebesstile und beschreibt sie anhand des traditionellen Farbkreises.
- Die Dreieckstheorie der Liebe des US-Psychologen Robert Sternberg beschreibt ein System, bei dem aus der Kombination von drei Komponenten die verschiedenen Arten des partnerschaftlichen Liebens hergeleitet werden können. Aus der unterschiedlichen Anwesenheit von Vertrautheit, Leidenschaft und Bindung in einer Beziehung ergeben sich acht Grundarten der Liebe sowie eine unendliche Zahl von Mischformen: Nicht-Liebe, Mögen, Kameradschaftliche Liebe, Leere Liebe, Einfältige Liebe, Verliebtheit, Romantische Liebe und Vollkommene Liebe.
Literatur
- Colors of love. An exploration of the ways of loving / John Alan Lee. – 1973
- Dreieckstheorie der Liebe / Werner Stangl. – 2024
- Die Kunst des Liebens / Erich Fromm. – 1965
- Selbstliebe: Zwischen Tugend und Tod / Marisa Sigrist, 2017
- Dialoge / Plato
- Nikomachische Ethik / Aristoteles