Es geht heute wie immer nicht um Glaubensfragen, sondern um nützliche Konzepte für das Verständnis der Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens. Religionen aller Zeiten und Orte haben uraltes kosmologisches, psychologisches und soziologisches Wissen hierüber bewahrt, das es sich anzuschauen lohnt (Ep.30).
Bezüglich der Moral haben wir bereits folgende Begriffe untersucht:
Objektive Moral (Ep.12), Tugend (Ep.9), Schuld (Ep.53) und Das Böse (Ep.46).
In dem Zusammenhang fällt unweigerlich das Wort „Sünde“. Dass dieses durchaus kein einfacher – und auch kein veralteter – Begriff ist werden wir in der aktuellen Episode herausarbeiten.
An dieser Stelle hatte ich eigentlich die Lesung eines meiner Texte aus dem Sommer 2022 geplant, stellte jedoch fest, dass dieser einiger Vorbemerkungen bedarf. Eine zentrale Rolle spielte hierin nämlich Ivan Illichs Anwendung des urchristlichen Verständnisses von Nächstenliebe (Ep.57) und Sünde auf unsere heutige Gesellschaft.
Ivan Illich, geboren 1926 in Wien, gestorben 2002 in Bremen, war zunächst katholischer Priester in New York und Puerto Rico, geriet jedoch wegen seiner Kritik an etablierten Institutionen zunehmend in Konflikt mit der Kirche. In den 1970/80ern wurde er durch die Werke Die Entschulung der Gesellschaft (1971), Selbstbegrenzung (1973), Die Enteignung der Gesundheit (1975), Fortschrittsmythen (1978) oder auch Genus (1983) in intellektuellen Kreisen bekannt und war ein gefragter Dozent.
Was ist Sünde?
Sie ist jede Form der Störung des Verhältnisses zu Gott, beginnend mit der Ursünde, als Adam und Eva den Anweisungen Gottes zuwiderhandelten und den Apfel vom Baum der Erkenntnis aßen. Daraus erwuchs das Konzept der Erbsünde, d.h. die angeborene Sündhaftigkeit aller Menschen. Diese zeige sich in unserer Sterblichkeit und unserer mangelnden Moralität, in denen wir kollektiv dem Ur-Paar glichen.
Dem gegenüber bezeichnete man die bewusste willentliche Übertretung der zehn Gebote als Todsünde. Man entfiel dadurch der göttlichen Gnade und konnte nur durch (das Sakrament der) Buße bzw. durch Reue wieder gerettet werden.
Die Sünde gegen den Heiligen Geist, also die bewusste willentliche Zurückweisung göttlicher Wahrheit, konnte nicht vergeben werden, denn sie entspricht der Verleugnung der natürlichen Ordnung und der Ablehnung von Moralität als solcher:
Mt 12:31f … Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden; aber die Lästerung des Geistes wird nicht vergeben werden. 32 Und wenn jemand ein Wort reden wird gegen den Sohn des Menschen, dem wird vergeben werden; wenn aber jemand gegen den Heiligen Geist reden wird, dem wird nicht vergeben werden, weder in diesem Zeitalter noch in dem zukünftigen.
Fehlverständnisse und Fehlhandlungen dürfen also vorkommen, nicht jedoch die Fähigkeit, seine eigenen geistigen Fähigkeiten einzusetzen, mit Füßen zu treten, denn ethisches Denken ist die Voraussetzung für moralisch richtiges Verhalten.
Was wir heute gern als die „Sieben Todsünden“ bezeichnen, verstand man ursprünglich als die sieben größten Laster: Hochmut, Geiz, Wolllust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit sowie die ihnen verwandten Regungen Eitelkeit, Habgier, sexuelles Begehren, Rachsucht, Maßlosigkeit, Eifersucht, Feigheit, Ignoranz und Gefühllosigkeit.
Man kann sie auch als Kardinalsünden bezeichnen, weil sie den sieben Kardinaltugenden gegenübergestellt wurden: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Glaube, Liebe, Hoffnung.
In der Neuzeit begann man Sünde auch als Verstoß gegen die allgemeine Sittlichkeit zu verstehen, etwa das unverheiratete Zusammenleben als „Leben in Sünde“.
Geschichte der Sünde
Während Übertretungen in der frühchristlichen Zeit mit Nachsicht und gegenseitiger Vergebung begegnet wurde – schließlich aß und atmete man gemeinsam (symposion & conspiratio) –, begann man im Mittelalter, etwa ab dem 12.Jh., Sünde zu kriminalisieren; man sah in ihr einen Verstoß gegen Kirchenrecht. Aus irgend einem Grund – es mag das in weiten Teilen Europas vollzogene Aufzwingen des Glaubens gewesen sein, oder auch die schnell wachsenden Städte – waren sich die Menschen einander nicht mehr so nahe wie zuvor. Stets aufrichtig und ehrlich zu sein wurde als Last empfunden. Übertretungen geschahen häufiger, Misstrauen gegeneinander wuchs. Furcht führte zu dem Bestreben, Kontrollmittel einzusetzen, um Wohlverhalten zu erzwingen.
Sünden, beispielsweise, gestand man sich und anderen nicht mehr offen ein; stattdessen musste einem Priester förmlich die (geheime) Beichte gegeben werden. Förmliche Verträge und Schwüre ersetzten das Vertrauen in die Aufrichtigkeit des Anderen. Weltliche Gewalt begann sich deutlich von kirchlich-religiöser Macht zu trennen, denn uneingestanden distanzierte sich der Fürst vom urchristlichen Verständnis, dass alle Menschen ausschließlich Gott verpflichtet waren. Zwei getrennte Rechtsbereiche begannen fürderhin das Zusammenleben zu regeln.
Menschengemachte Regeln zur Erzwingung von Wohlverhalten erscheinen uns heute eben so selbstverständlich wie sie der vorchristlichen Antike selbstverständlich schienen. Doch die Auffassung von Sünde als strafrechtlichem und repressivem Konzept verhindert, dass wir verstehen, was der Sozialphilosoph Ivan Illich zu sagen versucht. Er bezieht sich auf das radikal neue Menschenbild, das der Christus anbietet.
Was verstand Ivan Illich unter Sünde?
In der Antike erstreckte sich die Loyalität eines Menschen maximal auf seinen Stamm, wie wir das in ländlichen Bereichen der nicht-europäisierten Welt auch heute noch finden. So stark die familiale Bindung damals war, die Vorstellung, dass jeder unabhängig von seiner Herkunft liebevolle oder tugendhafte Behandlung erfahren kann, war den Leuten damals fremd. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der einem „Feind“ aus einer Notlage hilft, veranschaulicht das NT die Haltung der Nächstenliebe als eine Form der Zugewandtheit, die dem Gegenüber auch dann geschenkt wird, wenn Sitten, Gepflogenheiten, Traditionen oder Gesetze dabei verletzt werden müssen.
Nächstenliebe zur Pflicht zu machen würde sie ad absurdum führen. Sie ist eine innere Haltung, eine Tugend, und sie ist ein Geschenk, das aus freien Stücken gegeben wird. Die Ausübung jeder Tugend kann eine Sünde werden, wenn man sie zu weit treibt.
Die Sünde besteht in der Weigerung, dieses Verhältnis zu ehren, das zwischen dem Samariter und dem Juden entstanden ist, das durch die Ausübung der Freiheit zustande kommt und die ein “Sollen” darstellt, weil ich mich von dir berufen fühle, zu dir berufen, zu dieser Bindung zwischen den Menschen oder zwischen den Menschen und Gott berufen. […] Sie ist nicht in irgendeinem Sinne ein Verstoß gegen ein Gesetz. Sie ist immer ein Vergehen gegen eine Person.
– Ivan Illich: In den Flüssen nördlich der Zukunft
Die Sünde, schließt Illich-Biograph David Cayley daraus, sei also nicht einfach ein Übel oder ein moralischer Fehler. Sünde sei ein Vergehen gegen den Spirit, welches nur denjenigen Menschen möglich ist, die die Frohe Botschaft gehört und das Gehörte ignoriert haben: Dass wir von menschlichem Recht befreit und damit in vollem Umfang für unser Handeln verantwortlich sind.
Illich spricht von Institutionen als „modernen Schrecken“, die aus genau diesem Grund eine Form der Sündhaftigkeit darstellten:
Pflichtschulen, die das Lernen korrumpieren und den sozialen Aufstieg an den Fortschritt in einem manipulierten Spiel binden, Gesundheitsinstitutionen, die das Leben zu einer knappen Ressource machen, Transportsysteme, die die Mehrheit ausbremsen, damit einige wenige „fast allgegenwärtig“ sein können.
– David Cayley: Ivan Illich
Heutige Institutionen befänden sich im Widerspruch zu der neuen Freiheit vom alten Gesetz, die der Christus verkündet, und verkehrten diese Freiheit sogar in ihr Gegenteil. Aus dem Geschenk des menschlichen Für-einander-da-Seins – z.B. durch Speisung, Pflege, Unterweisung, Gebet, Schutz etc. – werde eine von Institutionen garantierte bzw. von Bürgern verlangte Pflichtleistung gemacht, die völlig ohne Mitgefühl erbracht werden kann und deren Unterlassung sanktioniert wird.
Der Begriff Antichrist, den Illich in diesem Zusammenhang synonym zur Sünde verwendete, subsumiere alle Arten, auf die Christi Botschaft missbraucht werden kann: die Verwandlung des Guten in ein verwaltetes Gut, ein Rechtsobjekt, ein Machtinstrument. Er spricht von „corruptio optimi pessima“: Aus der Korrumpierung des Besten entsteht das Schlimmste.
Ich glaube, Sünde ist etwas, das als Entscheidungsmöglichkeit des Menschen, als individuelle Wahl nicht existierte, bevor Christus uns die Freiheit schenkte, uns gegenseitig als Personen zu sehen, die dazu aufgerufen sind, wie er zu sein. Indem er diese neue Möglichkeit des Liebens schuf, diese neue Art und Weise, einander zu begegnen, diese radikale Narrheit – wie ich sie bereits genannt habe –, wurde auch eine neue Form des Verrats möglich. Deine Würde hängt nun von mir ab und sie bleibt solange nur eine Möglichkeit, bis ich sie in unserer Begegnung verwirkliche. Diese Ablehnung deiner Würde – das ist die Sünde.
– Ivan Illich: In den Flüssen nördlich der Zukunft
David Cayley, der die Interviews geführt hat, aus dem og. Zitat stammt, schreibt in seiner Illich-Biographie, die bald auch auf Deutsch erscheinen soll:
Sünde, könnte man sagen, wird transformiert von einem Befallensein zu einer Wahl. […] Wenn die Sünde als vergebbar erkannt und ein Geist der Reue und der gegenseitigen Nachsicht gepflegt wird, wird sie zu einer freudigen Erkenntnis, die uns erlaubt, im Licht zu wandeln, indem sie uns zeigt, wie wir unsere Welt verdunkelt haben. Aber die Sünde wird versteckt, erstens von der Kirche, wenn sie es versäumt, den Glauben auf die Versuchung des Antichristen zu fokussieren, und zweitens von der modernen Welt, wenn sie nicht einmal ihre Ursprünge in dem Glauben erkennt, den sie von innen nach außen gekehrt hat, und stattdessen über ihre Werte schwadroniert.
– David Cayley: Ivan Illich
Dem Begriff der Sünde steht in Illichs Auffassung weniger die Tugend als die Vergebung entgegen, die auf eine Umkehr erfolgen kann.
Literatur
- Ivan Illich. An intellectual journey / David Cayley, 2021
- In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley / Ivan Illich. – Beck, 2006