Episode 62: Anarchia al-islamia

Im Folgenden möchte ich aus dem Werk einer bekannten Führungsperson der islamischen Welt zitieren, die in vernünftigen Worten erläutert, weshalb sowohl Kommunismus als auch Demokratie keine rechtmäßigen Gesellschaftsformen sein können. Stattdessen wird eine führerlose Form des Zusammenlebens vorgeschlagen, die dem, was ich Anarchie nennen würde, sehr nahe kommt.

Obwohl diese Anarchie nicht aus dem Koran hergeleitet wird, könnte man sie im weitesten Sinne als eine islamische Variante bezeichnen, denn der zitierte Staatsmann sagt:

Das natürliche Gesetz einer jeden Gesellschaft ist entweder die Tradition (also Sitten und Gebräuche) oder die Religion. Jeder andere Versuch, für irgendeine Gesellschaft ein Gesetz zu formulieren, außerhalb dieser beiden Quellen, ist unzulässig und unlogisch. Verfassungen sind nicht das Gesetz der Gesellschaft. Eine Verfassung ist ein grundlegendes, vom Menschen gemachtes Gesetz… Verfassungen basieren auf nichts anderem als den Ansichten der Instrumente der diktatorischen, in der Welt dominierenden Herrschaft. (106)

Ich selbst bin nicht mit allem einverstanden, was die Person sagt und ich bin selbstverständlich kein Freund von staatlicher Führung. Das natürliche Gesetz des Menschen besteht in den Naturgesetzen, nicht in Sitten, Gebräuchen und Religion. Sofern Letztere dem Naturrecht nicht widersprechen, kann sich in ihnen ein vernünftiger Umgang mit Alltagssituationen manifestieren. Und insofern kann man das Werk durchaus als von der islamischen Kultur inspiriert sehen.

Die zitierte Person wird in westlichen Gesellschaften erwartungsgemäß stark dämonisiert. Sie hat in ihrem Land einige ihrer Ideen umgesetzt, andere jedoch nicht, und für diesen Mangel berechtigte Kritik erhalten. Doch wir sollten versuchen, die Idee von der Biographie des Sprechers erst einmal zu trennen, um zum Wesenskern der Botschaft vorzudringen. Für den Zweck dieser Sendung bleibt der Philosoph daher anonym. Wer sich wirklich für das Thema interessiert, wird herauszufinden wissen, von wem diese Gedanken stammen.

Demokratur

Alle politischen Systeme in der heutigen Welt sind das Produkt des Kampfes um die Macht zwischen den Instrumenten des Regierens. Der Kampf kann friedlich oder bewaffnet sein, so wie der Klassenkampf, der Kampf der Sekten, Stämme, Parteien und der Einzelnen. Das Ergebnis ist immer der Sieg eines Instruments des Regierens, sei es ein Individuum, eine Gruppe, eine Partei oder eine Klasse, und die Niederlage des Volkes, d.h. die Niederlage der echten Demokratie. (96)

Der politische Kampf, dessen Ergebnis der Sieg eines Kandidaten mit 51 Prozent der Stimmen ist, führt zu einem diktatorischen Regierungsorgan in der Verkleidung einer falschen Demokratie, weil 49 Prozent der Wähler von einem Instrument des Regierens beherrscht werden, für das sie nicht gestimmt haben, sondern das ihnen aufoktroyiert wurde. Das ist Diktatur. (96)

Es ist dumm, wenn eine Menschenmenge nur deshalb in ein Restaurant geht, um einer Person oder einer Gruppe von Personen beim Essen zuzuschauen; es ist dumm, wenn Leute eine Person oder eine Gruppe von Personen sich an ihrer Stelle aufwärmen oder eine Klimaanlage genießen lassen… Gleichermaßen sollten die Leute demokratischerweise einem Einzelnen oder einer Gruppe … nicht erlauben, an ihre Stelle zu treten, wenn über ihr Schicksal entschieden wird und ihre Bedürfnisse definiert werden… Diese Institutionen sind nur sozialmonopolistische Instrumente… Kein Einzelner und keine Mannschaft [hat] das Recht, … die Macht, den Reichtum oder die Waffen für sich selbst zu monopolisieren. (141f)

Ein Parlament ist etwas ganz anderes als das Volk, das es angeblich repräsentiert, und parlamentarische Regierungen sind eine in die Irre führende Lösung des Problems der Demokratie. Ein Parlament wird ursprünglich eingerichtet, um das Volk zu vertreten, aber das ist in sich undemokratisch, weil Demokratie die Autorität des Volkes bedeutet und nicht eine an seiner Stelle handelnde Autorität. Die bloße Existenz eines Parlaments ist gleichbedeutend mit dem Fehlen des Volkes, aber eine wahre Demokratie existiert nur durch die Mitwirkung des Volkes, nicht durch die Aktivitäten seiner Repräsentanten. Parlamente sind eine legale Barriere zwischen den Völkern und der Wahrnehmung ihrer Autorität, sie schließen die Massen von der Macht aus, während sie an ihrer Stelle die Oberhoheit usurpieren. Den Völkern bleibt nur der falsche äußere Anschein der Demokratie, der sich in den langen Schlangen derer manifestiert, die anstehen, um ihre Stimmen in die Wahlurnen zu werfen. (97)

Revolution

Die vorherrschende traditionelle Demokratie stattet den Parlamentsabgeordneten mit einer Heiligkeit und einer Immunität aus, die anderen einzelnen Angehörigen des Volkes verwehrt bleiben. Das bedeutet, dass die Parlamente ein Mittel zum Ausplündern und zum Usurpieren der Autorität des Volkes geworden sind. Deshalb haben die Menschen das Recht zu kämpfen und durch die Volksrevolution jene Instrumente zu zerstören, welche die Demokratie und die Souveränität usurpieren und diese den Massen wegnehmen. Sie haben auch das Recht, das neue Prinzip auszusprechen: Keine Vertretung anstelle des Volkes. (97)

Diese Herangehensweise [ie die Volksrevolution] ist jedoch der Weg zur Diktatur, denn diese Initiative vergrößert die Möglichkeit, dass ein das Volk repräsentierendes Instrument des Regierens daraus hervorgeht. Das bedeutet, dass das Instrument des Regierens noch immer diktatorisch ist. Außerdem sind Gewalt und gewaltsame Veränderung selbst undemokratisch, obwohl sie das Resultat dessen sind, dass es vorher eine undemokratische Situation gegeben hat. Die Gesellschaft, die noch in das sich daraus Ergebende verstrickt ist, ist eine rückständige Gesellschaft. (108)

Das Umstürzen der zeitgenössischen Gesellschaften, um sie von Gesellschaften der Lohnempfänger in Gesellschaften der Partner zu verwandeln, ist unvermeidlich, und zwar als ein dialektisches Resultat der sich widersprechenden, in der heutigen Welt vorherrschenden ökonomischen Thesen, und als ein dialektisches Resultat der auf dem Lohnsystem basierenden Beziehungen, deren Ungerechtigkeit bisher nicht gelöst wurde. (121)

Abstimmung = Konflikt

Wer eine Partei gründet, spaltet die Gesellschaft. (98)

Die Partei ist ganz und gar kein demokratisches Instrument, weil sie aus Leuten zusammengesetzt ist, die gemeinsame Interessen haben, eine gemeinsame Sicht der Dinge oder eine gemeinsame Kultur; oder aus Leuten, die aus derselben Gegend kommen oder denselben Glauben haben. Sie bilden eine Partei, um ihre Zwecke zu erreichen, anderen ihre Ansichten aufzuzwängen oder den Einfluss ihres Glaubens auf die Gesellschaft insgesamt auszudehnen. Das Ziel einer Partei ist es, unter dem Vorwand, ihr Programm zu verwirklichen, Macht zu gewinnen. (99)

Plebiszite sind ein Betrug an der Demokratie. Diejenigen, die »Ja« sagen und diejenigen, die »Nein« sagen, tun nicht wirklich ihren Willen kund. Sie sind durch die Konzeption der modernen Demokratie mundtot gemacht worden. Man erlaubt ihnen, nur ein Wort zu sagen, entweder ein »Ja« oder ein »Nein«. Das ist das grausamste und unterdrückerischste diktatorische System. Derjenige, der »Nein« sagt, sollte seine Antwort begründen. Er sollte erklären, warum er nicht »Ja« gesagt hat. Und derjenige, der »Ja« sagt, sollte Gründe für seine Zustimmung nennen und dafür, warum er nicht »Nein« gesagt hat. Jeder sollte klar sagen, was er will und die Gründe für seine Zustimmung oder seine Ablehnung nennen. (103)

Welchen Weg müssen Gruppen von Menschen also einschlagen, um die tyrannischen und diktatorischen Zeitalter ein für allemal loszuwerden? Da im Falle der Demokratie das verwickelte Problem das Instrument des Regierens ist, wie es sich in den Konflikten der Klassen, Parteien und Individuen ausdrückt; und da die Methoden der Wahlen und der Plebiszite erfunden wurden, um das Scheitern dieser erfolglosen Experimente zum Lösen dieses Problems zu verdecken, besteht die Lösung darin, dass man ein anderes Instrument des Regierens findet als jene, die Konflikten unterworfen sind und nur eine Seite der Gesellschaft repräsentieren. (103)

Strafe

Die Enzyklopädien der vom Menschen gemachten, von den vom Menschen gemachten Verfassungen abgeleiteten Gesetze sind voll von materiellen Strafen gegen den Menschen, während das traditionelle Gesetz diese Strafen nur selten kennt. Das traditionelle Gesetz erlegt keine materiellen, sondern moralische Strafen auf, die dem Menschen angemessen sind. Die Religion nimmt die Tradition an und in sich auf. Die meisten materiellen Strafen in der Religion werden auf den Tag des Jüngsten Gerichts verschoben. Der Hauptteil ihrer Regeln sind Ermahnungen, Anweisungen und Antworten auf Fragen. Dieses Gesetz bekundet dem Menschen gegenüber den angemessenen Respekt. Die Religion erkennt keine Haftstrafen an außer in extremen Fällen, wo diese zum Schutz der Gesellschaft erforderlich sind. (107)

Die Gesellschaft kontrolliert sich selbst. Jeglicher Anspruch irgendeines Einzelnen oder einer Gruppe, dass er oder sie für das Gesetz verantwortlich ist, ist Diktatur. (108)

Meinung & Wissen

Die natürliche Person hat die Freiheit, sich auszudrücken und dies sogar, wenn sie verrückt ist und sich irrational verhält, um ihren Wahnsinn auszudrücken. (109)

Jede Zeitung, die das Eigentum eines Einzelnen ist, gehört diesem Einzelnen und bringt nur seinen Standpunkt zum Ausdruck. Behauptungen, dass Zeitungen die öffentliche Meinung repräsentieren, entbehren jeder Grundlage, weil sie in Wirklichkeit den Standpunkt einer natürlichen Person zum Ausdruck bringen. (109)

Die natürliche Person hat nur das Recht, ihre eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen, und aus demokratischer Sicht ist sie nicht berechtigt, die Meinung von sonst irgendjemandem zum Ausdruck zu bringen. (109)

Die Schulpflicht, mit der sich die Länder der Welt immer dann brüsten, wenn sie diese ihrer Jugend aufzwingen können, ist eine der Methoden, die die Freiheit unterdrückt. Sie ist das zwangsweise Auslöschen der Talente eines Menschen sowie die erzwungene Ausrichtung der Wahlmöglichkeiten eines Menschen. Sie ist ein Akt der Diktatur und schädlich für die Freiheit, weil sie den Menschen seiner freien Entscheidung beraubt, seiner Kreativität und seiner Brillanz… Alle Länder, die ein Erziehungssystem in Gestalt von formelhaften Lehrplänen einrichten und die Schüler zwingen, nach diesen zu lernen, nötigen ihre Bürger… Das bedeutet nicht, dass die Schulen geschlossen werden und dass die Menschen der Erziehung den Rücken kehren sollen, wie das vielleicht für oberflächliche Leser den Anschein hat. Es bedeutet im Gegenteil, dass die Gesellschaft alle Arten von Erziehung zur Verfügung stellen und den Leuten die Gelegenheit geben sollte, frei zwischen allen Fächern zu wählen, die sie lernen möchten. (139)

Gesellschaften, die das materialistische Wissen zum unangreifbaren Tabu erklären, sind reaktionäre Gesellschaften, die der Unwissenheit Vorschub leisten und der Freiheit gegenüber feindlich eingestellt sind. Wissen ist das Naturrecht eines jeden Menschen, und niemand hat das Recht, ihn dieses Wissens zu berauben, unter welchem Vorwand auch immer. (140)

Diejenigen, die den Lauf ihres Lebens selbst bestimmen, sind nicht darauf angewiesen, dabei zuzusehen, wie ihnen von den Schauspielern auf der Bühne oder auf der Leinwand etwas vorgelebt wird. (143)

Ende des Zitats. Beeindruckende Worte, wie ich finde.

Die zitierten Textstellen stammen aus einer weit verbreiteten antiquarischen deutschen Fassung im Internet Archive. Das Werk ist (mit geänderter – um den Betrag 93 reduzierter – Seitenzählung) gedruckt und elektronisch im Buchhandel zu haben.

Literatur:

  • Das grüne Buch: Die dritte Universaltheorie / Muammar Al-Gaddafi (1977). – Lindenbaum, 2024

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