In zunehmendem Maße entsteht gerade ein Bewusstsein, dass Persönlichkeitsstörungen großen Anteil an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen haben, ja sogar, dass die Gesellschaft als Ganzes selbst „geistesgestört“ ist. Namentlich erwähnt werden hierbei Narzissmus, Soziopathie und Psychopathie. Doch über den Begriff der Psychopathie gibt es keine Einigkeit. Während man im Alltag Gefahr läuft, für jegliche Abweichung von der Norm als „Psycho“ abgestempelt zu werden, existiert die Diagnose „Psychopath“ in einschlägigen Handbüchern inzwischen gar nicht mehr, und es gibt durchaus auch unterschiedliche Vorstellungen darüber, worin sie besteht, wie sie entsteht oder wie ihr zu begegnen ist. Ich will versuchen, hier ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen.
Eigenschaften & Diagnose
Psyche [griech.] = Geist, Seele;
Pathos [griech.] = Leid, Krankheit;
Psychopathie → Geisteskrankheit, Leid der Seele.
Versucht wird, aufgrund der „Probabilistischen Testtheorie“ (engl.: Item Response Theory) die Reaktionen von Probanden auf bestimmte Wahrnehmungsreize zu bewerten. Für die Diagnose „wahrscheinlich Psychopath“ bedarf es einer mangelnden emotionalen Reaktion des Probanden auf üblicherweise erschütterndes Bildmaterial.
Robert D. Hare hat in den 1980ern eine Psychopathie-Checkliste mit 20 symptomatischen Punkten wie z.B. Neigung zu Lüge, Oberflächlichkeit, Impulsivität oder parasitärem Lebensstil entwickelt. Der Psychologe beurteilt Probanden nach persönlichem Eindruck. Es gibt keine standardisierten Fragen oder Reize hierbei. Erreicht der Proband eine gewisse Punktzahl, wird er als Psychopath eingestuft. Unterschieden werden zwei Formen: der interpersonell-affektive Typ, der manipulativ-täuschend agiert, und der antisozial-deviante Typ, der destruktiv handelt. Ob diese Checkliste ausreicht, wird bezweifelt, weil sie hauptsächlich aufgrund auffällig gewordener Individuen entstanden ist. Sie findet Anwendung in Forensik und Psychoanalyse („Profiling“), ist aber juristisch ohne Beweiskraft.
In der aktuellen Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10-GM), gibt es die Diagnose „F60.2: Dissoziale Persönlichkeitsstörung“, die Psychopathie weitgehend abdeckt:
Definition: Eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der betreffende Patient in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.
Inklusive Persönlichkeit(sstörungen): amoralisch / antisozial / asozial / psychopathisch / soziopathisch
Schauen wir uns im Detail an, welche Haltungen und Verhaltensweisen man beim Psychopathen beobachten kann:
- Hohe Manipulationsfähigkeit gegen andere; Versuch, diese auszubeuten oder gar zum Bösen zu verführen, um das Reine zu beschmutzen;
- Pathologische Lügner, täuschen Gefühle vor, sind an der Oberfläche charmant;
- Völlige Abwesenheit von Gewissen, Empathie, Mitgefühl, Reue. Diese werden jedoch mit hoher Perfektion vorgetäuscht;
- Verachtung der Gefühle anderer;
- Hohe Aggressivität, Gewaltbereitschaft, Tücke;
- Bereitschaft zu unmoralischen / kriminellen Handlungen, um ihren Willen zu bekommen;
- Leugnung, Rechtfertigung und Übertragung von Schuld; Verantwortungslosigkeit;
- Sichtbare oder versteckte Überheblichkeit;
- Leben ohne Kunst & Kreativität, existieren nur fürs Überleben, Geld, Kultmitgliedschaft;
- Geld, Sex und Macht als zentrale Werte;
- Statt Menschen zu lieben und Dinge zu benutzen „lieben“ sie Dinge und benutzen Menschen.
Entstehung
Neurologisches Modell
Das Mittelhirn (Limbisches System) arbeitet nicht normal. Es hat elektrochemische Fehlfunktionen. Es produziert nicht die Neuropeptide, die die Person in die Lage versetzen, Gefühle zu haben.
Die Störung lässt sich also durch Gehirnscans nachweisen, aber diese sind teuer, aufwändig und bedürfen als medizinische Maßnahme der Genehmigung des Patienten oder eines Richters.
Man unterscheidet zwischen Primären Psychopathen (qua Geburt) und sekundären Psychopathen (Soziopathen, qua Prägung).
Laut Genetik zählt Primäre Psychopathie zu den ca. 4000 vererblichen negativen Abweichungen des menschlichen Genoms und ist nicht heilbar. Deutlich weniger als 1% der Bevölkerung seien davon betroffen.
Das Problem besteht darin, dass gesellschaftliche Positionen, die Kontrolle und damit Macht über andere erlauben, wie geschaffen für den psychopathischen Geist sind. Er kann mit ihrer Hilfe Anderen völlig legal seine Wünsche und Vorstellungen aufzwingen.
Durch die Art, wie Gesellschaft reguliert wird, verleitet oder zwingt dies geistig gesunde Menschen zu quasi-psychopathischem Verhalten. Der sekundäre Psychopath (sog. Soziopath) entsteht, und diese Spezies gestörter Persönlichkeiten könnte je nach Einschätzung und allgemeiner Situation eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung umfassen.
Doch welchen evolutionären Vorteil sollte die Gattung Mensch durch eine solch selbstschädigende Eigenschaft haben? Oder warum würde Gott so etwas einpflanzen? Denn die Präsenz von Psychopathen gefährdet die fortgesetzte Existenz der betroffenen Spezies auf dem Planeten. Eine psychopathische Gesellschaft übersetzt den Ego-Drive in einen industriellen Verbrauch menschlichen und nicht-menschlichen Lebens sowie nichtlebender Materie. Sie muss sich schließlich selbst zerstören, weil sie zum einen an natürliche Grenzen stößt und zum anderen sich selbst genau so wenig heilig ist wie alles, was sie als extern betrachtet.
Man könnte vermuten, dass die Fähigkeit zur vorübergehenden Gefühllosigkeit Vorteile etwa bei der Selbstverteidigung und in anderen Gefahrensituationen hat, genau wie Wut oder Hass. Als angeborener Dauerzustand ergibt Psychopathie keinen Sinn. Daher steht zu vermuten, dass das Psychopathie-Gen gerade wie das Asozialen- oder das Mörder-Gen ein bequemer eugenischer Mythos ist, der einen externen Feind erschafft, welchen man identifizieren und töten kann.
Unlängst stieß ich auf ein anderes Erklärungsmodell, das mehr Sinn zu ergeben scheint:
Psychologisches Modell nach Uhler
Jon K. Uhler ist ein amerikanischer psychologischer Berater, der sowohl mit traumatisierten Gewaltopfern als auch mit verurteilten Sexualstraftätern arbeitet. Erfahrung mit Psychopathen sammelte er hauptsächlich in Haftanstalten.
Uhler weist auf ein Problem akademischer Forschung hin: Sie stützt sich hauptsächlich auf Aktenmaterial und Freiwillige. Er äußert den Verdacht, dass es sich bei letzteren vorwiegend um Narzissten handelt. Denn echte Psychopathen sind eher nicht geneigt, sich freiwillig zu melden und sie verfügen häufig über große Geschicklichkeit, ihre Persönlichkeitsstörung zu verbergen. Werden sie identifiziert, sind sie durch antisoziales bzw. gewalttätiges Verhalten auffällig geworden und bereits in Gewahrsam. Nur Personal in geschlossenen Anstalten, Profiler und Gefängnistherapeuten haben daher unmittelbaren Zugang zu ihnen, haben also Gelegenheit, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Um die Verantwortung für ihre schweren Verbrechen abzuwälzen, versuchen Probanden oft durch erfundene oder wahre Geschichten einer schweren Kindheit Mitleid zu erregen. So entsteht die klassische Soziopathie-Diagnose. Der Rest wird als (geborene) Psychopathen bezeichnet.
Uhler beschreibt dagegen ein Kontinuum zwischen bloß egoistischem Verhalten, Narzissmus und einem Dutzend Graden zunehmend abweichenden Verhaltens. Als Soziopathen bezeichnet er jene, die von der Befriedigung angetrieben werden, was sie erreichen können. Sie folgen einer Kosten-Nutzen-Analyse: „Lohnen sich Aufwand und Gefahr?“ Psychopathen sind aus seiner Sicht dagegen jene, die vom Nervenkitzel und der Freude am Zufügen von Schmerz angetrieben sind: „Es ist nichts Persönliches, es ist nur ein Geschäft.“
Egoistisches, und damit in letzter Instanz psychopathisches, Verhalten wird ausgelöst durch (oft schon prä-natales und natales) Trauma, mangelhafte Sozialisierung, Konditionierung, vergiftete Weltsicht und die Anpassung an eine soziopathische Gesellschaft. Der betroffene Mensch agiert im Überlebensmodus, d.h. stark egozentriert und moralisch beeinträchtigt. Ego und Gewissen stehen in inverser Beziehung: Je stärker das Ego wächst, desto schwächer wird das Gewissen. Um belohnt oder zumindest nicht bestraft zu werden verletzt er in zunehmendem Maße sein Gewissen. Er gleitet von versteckten Tabubrüchen über offensichtlich unmoralisches Verhalten in das zunehmend gewalttätige Ausleben von Phantasien ab, das in Extremfällen satanisch, besessen und völlig entmenschlichend sein kann. Mangelnde soziale Kontrolle beschleunigt den Prozess.
Zwanghafte Charaktere erzeugen die blutigen Hinterlassenschaften, die wir üblicherweise mit Psychopathie assoziieren. Kaltblütige Charaktere findet man eher in den Zentren der Macht und ihre Opfer verschwinden entweder vollständig oder werden auf „legitime“ Weise beseitigt (Krieg, „Unfall“, „Suizid“).
Der erfolgreiche blutige Psychopath lässt sich bei seinen Transgressionen nicht erwischen. Der erfolgreiche Weißhemd-Psychopath findet die juristischen Schlupflöcher.
Beide Charaktere entwickeln im Lauf ihrer „Karriere“ zunehmend Planung. Sie schreiten von Gelegenheit über Zielstrebigkeit zu Vorsätzlichkeit, Berechnung, Strategie, Böswilligkeit, Sadismus und schließlich Satanismus.
Psychopath und Gesellschaft
Der Egoismus wird bei der Erziehung von Anfang an betont, statt ihn wegzutrainieren. Das Individuum wird zum Zentrum der Welt erklärt, als einziger Grund, weshalb etwas zu geschehen oder unterbleiben hat: weil es mir nützt oder schadet. Wir sind jedoch soziale Wesen. Wenn das Ego wächst, schrumpft die Empathie für andere.
Beispielsweise wird aus Sex als Form des Einswerdens ein Mittel zur Selbstbefriedigung. Kinder sind dabei immer weniger erwünscht, denn deren Wohlergehen erfordert ein Stück weit Selbstaufgabe. Dies trägt mit zur sinkenden Zahl langfristiger Paarbeziehungen und auch der Geburtenraten bei, die in zahlreichen, vor allem westlich orientierten & industrialisierten Gegenden weit unter die Reproduktionsrate gefallen sind. Das hat wieder Auswirkungen auf Sozialsysteme, sozialen Frieden und Weltfrieden.
Autoritäre und vor allem totalitäre Regime werden stets den persönlichen Zusammenhalt zu reduzieren suchen, damit moralischer Rückhalt reduziert wird. Sie ersetzen ihn durch Kollektivismus und/oder Führerkult, was ihnen bessere Bevölkerungskontrolle ermöglicht.
Im Leben geht es darum, weise Entscheidungen bezüglich der Interaktion mit anderen zu treffen. Dabei hilft uns z.B. die Goldene Regel. Die beiden Fähigkeiten, die das erlauben, sind das Gewissen und die Intuition. Das Gewissen hält uns davon ab, uns über andere zu stellen, die Intuition davon, unseren Selbstwert zu vernachlässigen. Berücksichtigen wir beide, befinden wir uns „auf dem rechten Weg“ der Harmonie und des Gleichgewichts zwischen Individuum und Gruppe.
Wenn man sich von Gewissen und Tugend bzw. Intuition und Selbstwertgefühl entfernt, entfernt man sich vom Guten. Dabei begibt man sich auf einen schlüpfrigen Abhang, der in Abwesenheit von Selbstkontrolle oder wenigstens sozialer Kontrolle direkt ins Satanische führt.
Insofern wir eine Gesellschaft haben, in der wir uns darauf verlassen können, dass Menschen die Goldene Regel einhalten (Ehre, Tugend, Selbstkontrolle), genügt ein Handschlag. Je weiter Menschen sich davon entfernen, desto ausführlicher muss man sie auf ihr Fehlverhalten hinweisen (Zuruf, Schilder, Verträge, Kleingedrucktes, Gesetz & Kraftanwendung). Anhand der Gegenwart solcher Hinweise (im weitesten Sinn) lässt sich ermessen, wie weit eine Gesellschaft in Psychopathie abgerutscht ist; anhand der Zunahme an Intensität sieht man, wie schnell das vor sich geht.
Therapie
Bisher scheint es keine wirksame Therapie zu geben. Es wird Verhaltenstraining versucht, doch mit hoher Rückfallquote. Versucht wird auch die direkte Einwirkung aufs Gehirn mittels elektrischer oder Magnetstimulation und neuropharmazeutischen Produkten.
Letztlich bleibt nur Schadensbegrenzung. Psychopathen folgen einem Programm der Kontrolle ihrer Umwelt zum Zweck des Eigennutzes. Keine äußeren Bedingungen, keine Rücksicht, Verständnis, Geduld oder menschliche Wärme ändert ihre Einstellung, denn man sollte nicht annehmen, Psychopathen würden unsere Maßstäbe anlegen. Sie sind dafür nicht empfänglich.
Schutz & Prävention
Kinder sollten liebevoll aufgezogen werden, statt sie durch Strafe und Belohnung zu konformem Verhalten zu manipulieren. Traumata sollten vermieden und ggf. frühzeitig geheilt werden.
Kommt es erst zu deutlich sozio- und psychopathischen Verhaltensweisen, ist es häufig zu spät, etwas daran zu ändern. Man kann solche Menschen lediglich identifizieren – was oft nicht leicht ist – und dann durch Enthüllung, Separation, Isolation oder Kraftanwendung daran hindern, Schaden anzurichten.
Schamanische Kulturen beispielsweise verbann(t)en Narzissten und Psychopathen aus ihrer Nähe. (s. Zusammenstellung „How indigenous peoples handle narcissism & prevent authoritarianism“)
Der gegenwärtige Trend, adäquate Reaktionen auf psychopathische Verhaltensweisen einzuschränken, indem man Pädophilie, Zoophilie usw. lediglich als Präferenzen einstuft oder einer „schlimmen Kindheit“ zuschreibt, ist genau so schädlich wie auf mangelnde Einsichtfähigkeit zu plädieren. Psychopathische, soziopathische und narzisstische Verhaltensweisen sind definitiv unmoralisch und müssen nach den selben Regeln wie jedes andere solche Verhalten gestoppt bzw. verhindert werden.
Wichtig für den eigenen Schutz ist es, in die Selbstbestimmtheit zu kommen, um für Manipulationen immun zu werden. Man muss seine Angst ablegen und entschieden handeln.
Nach all dem, was ich gesagt habe, ist jedoch davon abzuraten, andere routinemäßig analysieren zu wollen. Das führt häufig zu Tunnelblick und zu Fehlbewertung völlig normaler menschlicher Regungen. Es besteht derzeit ein Trend zur Hexenjagd auf Psychopathen, weil man sie – nicht ganz zu unrecht – als das personifizierte Böse sieht (e46). Auf einmal scheinen sie allgegenwärtig.
Psychopathen in ihrer vollständig gefühlsabwesenden Form existieren, sie nehmen oft Führungspositionen ein und sie richten definitiv Schaden an, aber sie sind nicht „überall“, und es handelt sich definitiv nicht um eine schwarz-weiße Angelegenheit, das macht Jon Uhler deutlich. Wir haben es vielmehr mit einem sich selbst verstärkenden Phänomen zu tun, bei dem unsere generell objektivierende, positivistische und materialistische Einstellung die Struktur unserer Gesellschaft formt, welche wiederum dafür sorgt, dass wir objektivierende Verhaltens- und Denkweisen eintrainieren usw. Es ist bedenklich, dass wir als Menschheit insgesamt zunehmend gefühllos denken und handeln.
Literatur:
- Psychopathie Checkliste PCL-R nach Prof. Dr. Robert Hare / Bigas Group
- Jon Uhler 3x Interview bei Wake the Dead
- Jon Uhler Psychopathie-Chart deutsch / english
- Defense against the Psychopath / Stefan H. Verstappen. – Woodbridge, 2011
- How indigenous peoples handle narcissism & prevent authoritarianism. A compilation / Xelzbrod