Episode 66: Strafe

Strafe wird diskutiert in Justiz, Religion, Philosophie, Psychologie, Erziehung, Lerntheorie, Spieltheorie. Wir beschäftigen uns heute mit der rechtlichen Strafzufügung.

Kriminalität, und untrennbar mit ihr verbunden ihre selbstverständlich erscheinende Folge: die Strafe, sind … ein fester Teil unserer Gesellschaft. Woher aber kommt diese enge Verbindung? Warum reagieren wir auf unerwünschtes Verhalten ausgerechnet mit Strafe? Seit Jahrtausenden haben sich die großen Denker aller Epochen mit dieser grundlegenden Frage beschäftigt. Bis heute haben sie keine Antwort gefunden, die sich als der Wahrheit letzter Schluss erwiesen hätte. – Lukas Cerny: Eine kurze Geschichte der Strafe

Über das unmittelbare Zurückschlagen in Notwehr hinaus können Menschen manchmal den Drang verspüren, einen vermeintlichen Schädiger ihrerseits zu schädigen. Diese Handlung nennen wir Strafe; der Drang hierzu entsteht meiner Erfahrung nach zum einen aus dem Gerechtigkeitsgefühl: dass durch einen mir zugefügten Schaden ein Ungleichgewicht entstand, das behoben werden muss. Zum Anderen möchte das Gefühl der Bedrohung besänftigt werden, indem sein Objekt abgeschreckt, behindert oder vernichtet wird.

Wir werden im Lauf der Sendung sehen, wie Strafe argumentativ rationalisiert und gerechtfertigt wird, wie sie in ihren Zielsetzungen versagt und was an ihrer Statt geschehen kann bzw. muss.

Verwandte Themen: Die Schuldfrage (e53), Leid beenden (e56), Naturrechtszuwiderhandlungen (e60), Anarchia al-islamia (e62)

Definitionen

Recht: Jede Handlung, die Anderen keinen Schaden initiiert; frei über seinen Körper und sein Eigentum verfügen zu können; in Ruhe gelassen zu werden.

Gewalt: Die Initiierung von Schaden gegen einen Anderen; die Verletzung seines Rechts, jede Handlung zu tun oder unterlassen, die keine Rechte Dritter beeinträchtigen. Gewalt und die Drohung mit ihr sowie jede andere Form von Nötigung sind die versuchte Aneignung der Kontrolle über den Körper, die Freiheit oder das Eigentum des Opfers, d.h. sie versucht, die Selbstbestimmtheit eines Anderen zu beenden bzw. seine freie Bewusstseinsentfaltung zu hemmen oder seine Würde zu mindern. Das erklärt, weshalb auch materiell schadlose Handlungen wie Haft, Lüge oder Hausfriedensbruch Gewalt darstellen.

Notwehr: Jede Handlung, die mittels Kraftanwendung Gewalt verhindert, abwehrt, mindert oder beendet. Das Maß der verteidigenden Kraft muss dem Angriff angemessen sein. Da der Täter die Rechte des Opfers negiert, stellt er sich selbst außerhalb des Rechts und kann daher für den Zeitraum des Unrechtsgeschehens Schaden erfahren.

Strafe wandelt sich in ihrem Charakter und Zweck von Ort zu Ort und Epoche zu Epoche. Das spiegelt sich in ihren verschiedenen Definitionen:

  • Strafe ist eine gewünschte Übelzufügung, die jemand einem empfindenden Wesen in Reaktion auf eine schuldhafte Normverletzung zufügt, wobei die Strafe für den Bestraften tatsächlich ein Übel darstellen muss. – Marco Zeh: Moral und Strafe
  • Strafe (§§ 38ff. StGB) ist die Zufügung eines der Schwere von Unrecht und Schuld angemessenen, öffentliche Missbilligung ausdrückenden Übels für eine Rechtsverletzung. – Köbler Juristisches Wörterbuch 2004
  • Vergeltung [Abzahlung] für schuldhaft begangenes Unrecht. – Brockhaus 1984
  • Repressives Übel zur Ahndung [ahdt.: anton = rächen, strafen] begangener Straftaten. – Bertelsmann 1973
  • Die Strafe ist eine Sanktion [missbilligende Reaktion; lat.: sancio = machen, widmen, verbieten, feststellen] gegenüber einem bestimmten Verhalten, das [von einer Autorität] als Unrecht bzw. als (in der konkreten Situation) unangemessen qualifiziert wird. – Wikipedia: Strafe
  • Juristische Strafe heute braucht nach positivistischer Rechtsauffassung einen legitimen kodifizierten Grund, bedarf der Schuldfähigkeit des Delinquenten, muss angemessen sein und darf nur von autorisierten Personen nach Genehmigung durch andere legitimierte Personen aufgrund eines legitimen Prozesses gegeben werden. Keiner dieser Punkte ist selbstverständlich, sondern wurde v.a. während der Aufklärung erstritten. Strafgrund, „Strafprozess“ und Strafmaß wurden/werden oft völlig subjektiv bestimmt. Bis zur Aufklärung konnte ein Fürst Strafe für Widerrede oder bloß vermutete Täterschaft ad hoc im Alleingang verhängen, wobei das Maß von seinen Launen abhing. Psychisch gestörtes Verhalten wurde in der Vergangenheit mit Schlägen quittiert. Noch heute strafen Menschen ihre Kinder, Haustiere oder Mitmenschen aufgrund subjektiver Kriterien.
  • Naturrechtliche Analyse: Jemand, dem eine bestimmte Tat vorgeworfen wird, wird in seinen Rechten verletzt. D.h. es findet eine vorsätzliche begründete Schädigung statt, die weder auf Gegenseitigkeit noch Vorteilsnahme beruht. Dabei ist es unerheblich, wer wofür mit welchen Methoden straft bzw. gestraft wird und ob dies berechtigt oder unberechtigt ist.

Begründungen

  • Rache, zornige Vergeltung (Zurückzahlung, Revanche) einer als ungerecht oder böse empfundenen Tat. Gesucht wird hierbei nicht gerechter Ausgleich, sondern das Zufügen von Leid: Ich habe gelitten, also sollst auch du leiden.
  • Physische Zerstörung (des Gefäßes) des Bösen (z.B. Dämonen);
  • Wiedergutmachung, Sühne für Unrecht oder Verschulden;
    • teilweise möglich, teilweise nicht (Mord). Strafe vermehrt häufig den Schaden lediglich.
  • physische Verhinderung weiteren Schadens;
    • dann müsste jeder lebenslange Haft oder Tod erhalten.
  • psychologische Verhinderung weiteren Schadens;
    • ein abschreckender Effekt lässt sich nicht feststellen.
  • Abschreckung Dritter;
    • dann müssten alle Strafen öffentlich vollstreckt werden.
    • historische Erfahrungen mit öffentlicher Bestrafung (Pranger, Hinrichtung) zeigten, dass dies zu einer Verrohung der Bevölkerung führte, die sich wiederum in Hasskriminalität und Rebellion ausdrückte.
    • ein positiver Effekt lässt sich nicht feststellen.
  • Erziehung;
    • Mit den Delinquenten müsste eine Umerziehung vorgenommen werden. Sie erhalten jedoch lediglich Schaden zugefügt.
    • Rückfallquote erwartungsgemäß ziemlich hoch, zumal Resozialisierung für die durch Strafe Gebrandmarkten schwierig ist.
  • Warum strafen wir? (summarisch):
    • Wir möchten, dass Handeln, das als schlecht empfunden wird, aufhört.
    • Wir streben nach „Gerechtigkeit“.

Statt Strafe

Der durch Aufsehen erregende Prozesse bekannt gewordene amerikanische Anwalt und Bürgerrechtler Clarence S. Darrow (1857-1938) weist nach, dass eine Strafe, deren Ziel und Zweck bei Verhängung nicht bekannt sind bzw. wie dargelegt offensichtlich nicht erreicht werden (können), in sich ein Unrecht darstellt. Denn wenn er nicht weiß, ob (eine) Strafe nötig, angemessen und nützlich ist, kann der Staat damit keine Gerechtigkeit herstellen. Er weiß nicht einmal, was das sein soll. (s. Clarence S. Darrow: Resist Not Evil)

Wir sehen, dass die Gründe (eigentlich: Recht-Fertigungen = Anmaßung, s.Ep.26: Recht und Gerechtigkeit) für Bestrafung nicht hinreichen, die Schädigung des Täters zu berechtigen. Ausschließlich Notwehr berechtigt dazu. Diesen Mangel an Rechtmäßigkeit können wir weiter untermauern:

  • Mangelnde Klarheit bezüglich Strafbarkeit einer Handlung, Schwere der Strafe, Zweck von Bestrafung und Ergebnis des ganzen Prozesses – diese sind historisch und kulturell unterschiedlich und durchaus umstritten. Eine Handlung wird erst durch menschengemachte Regeln (i.e. relative Moral) zur Straftat. Weil die Menschen sich über diese Regeln nicht einig sind, werfen Regime sich gegenseitig vor, Unrechtsstaaten zu sein – korrekterweise, denn:
    • Objektive Moral ist stets anzuwenden.
  • Strafe ist ungerecht.
    • In Fällen, bei denen Dritten kein Schaden entstand, liegt keine Rechteverletzung vor.
    • Wenn man Unrecht bestraft, müsste man eigentlich auch rechtes Handeln belohnen.
    • Wenn man die Unfähigkeit oder den Unwillen bestraft, sich unter Kontrolle zu halten, müssten wir alle auf diese Kriterien geprüft und evtl. gestraft werden, ohne etwas verbrochen zu haben (Minority Report). Und wenn wir alle potentielle Missetäter berücksichtigen wollten, müssten wir sicherlich auch uns einbeziehen,“ schreibt Karl Menninger in seinem Buch The Crime of Punishment (1968). Denn der Strafende ist selbst nicht frei von Fehlbarkeit. Darum sagte der Christus: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“
      • Wer ist also der Strafende, dass er sich über den Zu-Strafenden erheben darf?
  • Strafe trifft die Falschen, wenn externe Ursachen zugrundeliegen. z.B. füllen Gefängnisse sich saisonal und konjunkturell.
    • Es braucht Ursachenforschung und -behebung.
  • Strafe kommt zu spät; a) Es macht Schaden nicht ungeschehen; b) Schädigende Handlungen haben ihre Ursachen oft in Störungen des Reifungsprozesses eines Kindes. Also lieber:
    • Stärkung der Familie;
    • liebevolles Erziehen;
    • frühzeitige geistige, moralische, fachliche und körperliche Bildung.
  • Strafe schädigt nur das physische Sein des Täters. Externe und interne Ursachen der Tat bleiben davon unberührt. Menschen sindnicht böse, sondern handeln unrecht. (e45)
    • Mangel in den Daseinsbedingungen aber auch in der Daseinsmächtigkeit (manuelle und geistige Fähigkeiten, ethisches Denken, Mitgefühl, Mut, Willenskraft) müsste behoben werden; Kriminalität kann auch ein Seismograph für gesellschaftliche Missstände sein, die es zu beseitigen gilt;
    • es bedarf geistiger, moralischer, fachlicher und körperlicher Bildung.
  • Strafe trifft unschuldige Dritte: Freunde, Familie, Nachkommen (epigenetische Folgen).
    • nicht strafen sondern moralisches Bewusstsein bilden und dann reintegrieren → Verzeihung.
  • Strafe stört den sozialen Frieden. Die Gesellschaft verroht und verliert an Frieden und Gerechtigkeit. Der Täter bleibt oft ein Leben lang psychisch vernarbt und sozial isoliert und benachteiligt.
    • Die Frage, wie wir weiterleben wollen – der Täter mit uns und wir mit dem Täter –, müsste im Vordergrund stehen;
    • Wir brauchen hierfür restaurative Gerechtigkeit, Konfliktlösungsgespräche, Reintegration → Verzeihung;
    • In einem Unrechtssystem muss eine flächendeckende Traumatherapie stattfinden, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen. Erst dann kann wahre Gerechtigkeit walten.
  • Strafe ist nicht nur nutzlos und schädlich sondern auch unnötig.
    • Gerade wenn [der Staat] mit dem Strafrecht zu seinem wohl schärfsten Schwert greift, sollte er [der Legitimität wegen] grundsätzlich wissen, welches Ziel er damit verfolgt und ob die Strafe das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel zur Verfolgung dieses Zweckes ist. – Lukas Cerny: Eine kurze Geschichte der Strafe
    • So hehr die Ziele, die mit und durch die Strafe erreicht werden sollen, auch sein mögen, sie machen das Übel nicht moralisch gerechtfertigt. Die Strafe steht diesen Zielen teilweise sogar entgegen, wie bei der Resozialisierung. Damit haben die Strafe und ihre Rechtfertigungsversuche etwas Scheinheiliges. Strafe ist nicht konstruktiv, sondern destruktiv. Sie verbessert nicht, sondern schadet. Sie heilt nicht, sondern verletzt. Sie gleicht nicht aus, sondern rächt sich. Sie lehrt nicht, sondern züchtigt. Sie schafft nicht Vertrauen, sondern schürt Angst. Sie entkriminalisiert nicht, sondern kriminalisiert. Sie zieht nicht zur Verantwortung, sondern wälzt diese ab. Sie löst nicht das Problem, sondern bekämpft Symptome. Strafe ist kein notwendiges Übel, sondern ein moralisches Übel. – Marco Zeh: Moral und Strafe. Warum wir nicht strafen dürfen
    • Strafe hat daher im Naturrecht nichts verloren. Die rechtswiederherstellenden Funktionen, die ihr zugeschrieben werden sind nicht durch destruktive (Rechte verletzende) Akte zu erreichen; das sagen uns Gewissen und Empathie. Ich denke, das ist der Grund, weshalb es im Lauf der Jahrhunderte zu einer Humanisierung des Strafwesens kam. Strafe ist zur Herstellung von Gerechtigkeit nicht geeignet, denn für diese bedarf es eines konstruktiven Ausgleichs zwischen den Beteiligten: Täter, Opfer und Zeugen (im weitesten Sinne).
    • Bei Gerechtigkeit geht es nicht nur um die Wiederherstellung der Rechte des Opfers – keine Schäden zu erleiden und alles tun zu können, was anderen keinen Schaden initiiert –, sondern auch um die Rechte des Täters. Diese müssen wiederhergestellt werden, und das kann nur gelingen, wenn er die Rechte anderer versteht und achtet. Denn wer sich im Umgang mit Anderen außerhalb des Rechts begibt, entledigt sich seines eigenen. Dieser Zustand dauert an, bis Gerechtigkeit wieder hergestellt wird (keine Verjährung).
    • Wenn es das Ziel von Strafe ist, Unrecht / Ungerechtigkeit zu beenden bzw. zu verhindern, muss man ihre Ursachen außer Kraft setzen. Der Täter gleicht einem Kranken, der Symptome seiner Krankheit zeigt. Auch wenn Platon das anders sah: Die Heilung kann nicht darin bestehen, den Kranken zu strafen. Seine „Krankheit“ besteht in Unwissenheit um die natürlichen Gesetze. Die Medizin besteht in Aufklärung.
    • Auch die soziale Wunde, die durch die Tat gerissen wurde, muss geheilt werden. Auf eine Tat folgt…
      • Bekenntnis des Verursachers zur Tat;
      • Einsicht in das begangene Unrecht = Reue des Verursachers;
      • Sühne (Schadensregulierung) durch den Verursacher; (v.ahdt. suonen = richten, einen Ausgleich herbeiführen; mhdt. süenen = versöhnen, ausgleichen, abhelfen, beseitigen) d.h. Wiedergutmachung, Genugtuung (=Wiederherstellung eines verletzten Rechtsgutes, Ausgleich einer Schuld; auch: Gefühl völliger Zufriedenheit)
      • Verzeihung durch den Geschädigten; (v. indoeurop.: deik= [auf den Schuldigen] zeigen; ver– = [Negation])
      • Vollständige Reintegrierung durch die Gemeinschaft.
  • Wiederholungstäter, notorische Störer, unheilbar Destruktive: je nach Schwere…
    • Dauerhaft + intensivierte ethische Bewusstseinsbildung; Entlassung bei Erfolg;
    • lebenslange geographische Isolation;
    • Notwehr wird irgendwann das Problem erledigen.

Wir werden niemals alle schädigenden Handlungen loswerden, aber wir können Anzahl und Ausmaß durch konsequente Umsetzung des Naturrechts auf ein Minimum reduzieren, statt Schaden durch Strafe zu mehren.

Literatur:

  • Eine kurze Geschichte der Strafe. Ein historisch-kritischer Beitrag zur Straftheorie / Lukas Cerny. – Mohr Siebeck, 2024
  • Moral und Strafe: Warum wir nicht strafen dürfen / Marco Zeh. – Nomos, 2024
  • Resist not evil / Clarence S. Darrow. – Kerr, 1903
  • Inventing Human Rights. A History / Lynn Hunt. – Norton, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert