Die nun fünfte Sendung in der Serie über das menschliche Bewusstsein.
Eigentlich beginnen hätte sie sollen mit dem längst vorweggenommenen „Aufwachen“, d.h. dem ersten Schritt der Selbstbefreiung aus dem Seelengefängnis: dem Lügengebäude, in welchem sich die kollektiv unbewusste sog. „Menschheit“ gegen den Ansturm der Wirklichkeit verrammelt hat.
Doch wenn du aufwachst, befindest du dich noch immer im Gefängnis. Um aus ihm auszubrechen, musst du vollständig deiner wahren Natur bewusst werden und dich vollständig von allen Anhaftungen ans Kollektiv befreien. Dieser Prozess wird nicht umsonst Individuation genannt, denn er beinhaltet in der Hauptsache das Erkennen, dass dein Beitrag als Individuum unverzichtbar für das Ganze ist, dass du bei der Entfaltung deines Potenzials jedoch von den geistigen Ketten ans Kollektiv zurückgehalten wirst. Erst wenn die Individuation ein unumkehrbares Stadium erreicht hat, bei dem zwar vielleicht noch vieles im Nebel liegt, aber das Fortschreiten der Bewusstwerdung ein Selbstläufer geworden ist, können wir von einer innerlichen Befreiung, einem Bannbruch sprechen.
Bewusstwerdung geschieht durch die Frage nach dem, was ist bzw. wirkt. Sie ist die Suche und Erkenntnis der Realität bzw. Wirklichkeit. Ein Markenzeichen der Bewusstwerdung besteht in der Erkenntnis, dass die Wirklichkeit aus mehr als den Eindrücken der fünf Sinne, mehr sogar als nur der messbaren physikalisch-materiellen Welt besteht. Weil der Mensch, der im Bann der Illusion der fünf Sinne gefangen ist, keine Anhaltspunkte und keinen Maßstab hat, an denen er das „Jenseits“ erkennen, geschweige denn sich in ihm orientieren kann, helfen ihm nur die Beschreibungen derjenigen, die bereits Erfahrungen mit dem Meta-Physischen – den jenseits-des-körperlichen befindlichen Anteilen der Wirklichkeit – gesammelt haben. Solch esoterisches Wissen wird bildhaft vermittelt. Wie die Welt tatsächlich beschaffen ist, kann man mithilfe von Symbolen, Ziffern, Metaphern und Analogien aufzeigen. Systeme, die sich bildhafter Vergleiche bedienen, sind zum Glück zahlreich: die Mythen verschiedener antiker Völker, Astrotheologie, Numerologie, die Gleichnisse des Neuen Testaments, die Veden und Upanishaden der Inder, der Zohar der Kabbalah, das Tarot, die hermetischen Lehren, die Alchemie, die Gedichte der Sufis, die Lehren des Dao, die buddhistischen Sutren, die architektonisch kodierte Kosmologie an heiligen Stätten rund um die Welt oder auch viele Erzählungen von Stammeskulturen.
Wahrheit erkennt man durch Einsicht, Imitation oder Leid, den drei Säulen der Freimaurer. Dies sind gleichzeitig die drei Äste des Lebensbaums, welche die drei Wege der Erkenntnis symbolisieren.
Im Zuge des Bewusstwerdungsprozesses muss man:
- kindliche Ohnmacht / Hilflosigkeit / Opferhaltung ablegen, die Furcht ablegen;
- Liebe zur Wahrheit, d.h. dem So-Seienden kultivieren;
- Wahrnehmungsfähigkeit erweitern und sensibilisieren;
- einen Zuwachs an Wissen und Erfahrungen zulassen, auch wenn diese unangenehm erscheinen;
- Wissen, Gefühle und Emotionen mit der Wirklichkeit in Einklang bringen;
- stetig das Weltbild an die Wirklichkeit anpassen;
- die Schöpfungsordnung, die objektive Existenz von Richtig und Falsch, universeller Gesetze und Prinzipien, des Selbst, sowie unsere Anbindung an die Quelle erkennen.
Bewusstwerdung ist identisch mit Deprogrammierung, mit Selbstbefreiung, mit Wahrhaftigkeit, mit der Suche nach dem Urgrund der Existenz, mit Lieben-Lernen, mit Spiritualität… all das ist Bannbruch. Es handelt sich um keinen stabilen Zustand, sondern um eine Aktivität; jedoch keine Aktivität, die abseits des „normalen Lebens“ geschehen kann, so wie man Sonntags in die Kirche geht oder Freitag Abends zum Stammtisch, sondern eine das gesamte Dasein einschließende Erfahrung. Daher ist Bewusstwerdung auch das Leben schlechthin. Nichts hierin sollte noch automatisch ablaufen. Die Entwicklung eines eigenen Willens, basierend auf den wahren Erkenntnissen über die Wirklichkeit, ist vonnöten, um jegliche Form der Fremdbestimmung radikal in dir auszumerzen: von Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten und Traditionen über Herdentrieb und Autoritätshörigkeit bis hin zu Angstreaktionen und psychischen Beeinträchtigungen. Das Unwahre, Unschöne und Ungute darf keine Gelegenheit mehr bekommen, deine Entscheidungen zu beeinflussen und sich in deinen Handlungen auszudrücken.
Das erfordert eine dauerhafte Wachsamkeit bezüglich deiner Beweggründe und die permanente Hinterfragung deiner Antworten auf Fragen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie anstrengend das ist, besonders anfangs, wenn es noch ungewohnt ist. Aber von nichts kommt nichts. Die meisten Menschen heute sind nicht dazu bereit. Ihnen fehlt das ernsthafte Interesse an der Beförderung des Guten, der Mut sich aufzuraffen, der Wille zum Durchhalten. Über sie kann man bestenfalls sagen, dass sie schlafendes Potenzial verkörpern – Schlafschafe eben. Schlimmstenfalls haben sie ihre Fähigkeit, geistig zu wachsen, längst abgegeben, wenn sie diese überhaupt je besessen haben. John Baines nennt sie sapiens, eine von animalischen Trieben gesteuerte Gattung der Faulenzer, die in einer Traumwelt leben. Er schreibt:
Nur diejenigen, die sich über ihre Pflicht und Notwendigkeit hinaus anstrengen, sind KEINE Faulenzer. Die Menschen leben im Allgemeinen in Träumen von zukünftigen Ereignissen, die ihr Leben radikal verändern…. Sapiens ist in Wahrheit ein professioneller Faulenzer, vor allem, weil er sich in seiner geistigen Aktivität und in seinem Verhalten eifrig mit einer Traumdroge betäubt. – John Baines: The Stellar Man, S.90
Selbst ohne je von Postmodernismus gehört zu haben ist für den Sapiens das Nicht-Materielle, der Bereich der Philosophie und Spiritualität, beliebig formbar und daher gibt es hieran nichts zu wissen, nur zu glauben. Doch:
Wahre Philosophie ist keine Quelle für Gedankenspiele, sondern das tatsächliche Wissen um die objektive Wahrheit. Die Hermetik ist die Wissenschaft vom Umgang mit dem eigenen Bewusstseinsinstrument, wobei die eigene Intelligenz auf Ebenen ungeahnter Ganzheitlichkeit angehoben wird. Sie ist die Wissenschaft von der Steigerung des eigenen Bewusstseins auf einen höheren Bewusstseinszustand, in dem der Neuling den vollen Gebrauch der höheren Fähigkeiten der Spezies erlangt. Diejenigen, die die Philosophie verachten, kennen sie nur in ihrem traditionellen theoretischen Aspekt. Sie sind sich nicht bewusst, dass es philosophisches Wissen von höchst praktischer Natur gibt, das dazu dient, das Bewusstseinsniveau des Einzelnen zu erhöhen, bis er ein vollkommenes geistiges Instrument beherrscht und in der Lage ist, höhere Wahrheiten zu meistern. Sie lassen die unwiderlegbare Tatsache beiseite, dass die Intelligenz das eigentliche Steuerrad des Lebens ist und dass, wenn diese Fähigkeit nicht von fremden Störungen befreit und auf einen höheren Zustand der Effizienz, des Bewusstseins und der Klarheit angehoben wird, den Menschen ein vertrauenswürdiger Kompass fehlt, der ihnen den Weg zu ihren höheren Zielen weist. Die Überwindung der Entfremdung im Individuum und später die vollständige Deprogrammierung ist eines der wichtigsten Ziele der hermetischen Philosophie. Hierbei… wird im Besonderen die Spiritualität erhöht. – John Baines, The Science of Love, S.165
Die unauflösliche Verbindung zwischen Bewusstwerdung und Spiritualität kommt immer wieder zur Sprache, wenn man erfahrenen „Reisenden“ zuhört. Auch ich selbst musste schließlich meinen philosophischen Materialismus sausen lassen, als nur all zu klar geworden war, dass es sich bei ihm um eine unhaltbare Ideologie, eine Glaubenssache handelt, die entscheidende Anteile der Wirklichkeit ausblendet. Spiritualität war mir von da an nicht mehr lediglich eine aufgepfropfte Vorstellung von einer tröstlichen Sphäre jenseits der irdischen Realhölle. Sie wurde zu einer Haltung, der die Erkenntnis der Notwendigkeit eines schöpferischen, ordnenden Prinzips zugrunde liegt. Und das hat ganz praktische Auswirkungen auf das Handeln. Daher kann ich Gwendolin Kirchhoff nur zustimmen, wenn sie zum Ausdruck bringt:
Ich meine nicht, dass es möglich ist, zu sagen, wir brauchen die Spiritualität oder wir brauchen sie nicht. Spiritualität ist kein Ding, was man hinzufügt … sondern hier geht es um das Thema: „Was ist die Welt überhaupt und was ist der Mensch in der Welt … Das Spirituelle basiert ja auf einer Realität, die in der Welt anzutreffen ist. Und das allererste, was wir sehen, ist das Thema der Bewusstwerdung oder der Bewusstmachung von eigentlich wirkenden Gedanken und Kräften, denn wir können sagen, dass alle Handlungen und alles was sich auswirkt in der Welt anfängt mit einem eigentlich wirkenden Gefühl oder einem eigentlich wirkenden Gedanken…
Wenn man beispielsweise sich anschaut, wie große Vipassana-Experimente gelaufen sind, z.B. in Indien und den USA, ist es so, dass wenn man Mörder einer solchen Praxis aussetzt, sie danach nicht – „jetzt erst recht“ – zum Serienkiller werden, sondern dass in der Meditation ein Aufwachprozess stattfinden kann, in dem der Mensch sich seiner Taten bewusst wird, und zwar vorbei an den vielen emotionalen Verdrängungsbewegungen und an den vielen Bewegungen der gedanklichen Abwehr zu dem eigentlichen Kern seines Handelns vordringen kann. Und das ist ein Bewusstwerdungsprozess. – Gwendolin Kirchhoff in: Materialismus am Abgrund, 13:40-15:00 (Manova)
Merkmale echter Spiritualität
Den Zusammenhang zwischen Spiritualität und Bewusstsein haben wir nun ausreichend herausgearbeitet. Beide habe ich in Ep.71 definiert. Als Endpunkt der spirituellen Entwicklung zu höherem Bewusstsein wird oft Erleuchtung genannt. Doch genau wie der Weg dorthin mit zahlreichen Wörtern bezeichnet und mit mannigfaltigen Bildern beschrieben wird, weil er in der Vorstellungswelt Lieschen Müllers sonst keinen Anknüpfungspunkt findet, ist auch Erleuchtung zu einem Wort mit schwer fassbarer Bedeutung verkommen.
Und wieder finden wir einen Reigen von Bezeichnungen und Bildern, die den Erleuchtungsbegriff zu fassen bekommen sollen: Samadhi, Illumination, vollständiges Erwachen, Non-Dualismus, Einssein, Dao, Tewhid, Buddha-Bewusstsein, Stein der Weisen, Erlösung usw.
Der Mangel an Erfahrung mit dem Bereich der Bewusstseinsentwicklung fördert Phantasien über die Natur der dazugehörigen Phänomene. Die Vorstellung, dass mit der Erleuchtung oder der Spiritualität als solcher ein Gefühl der Entrückung und Verzückung einhergehen müsse und dass alles in einem besonderen Glanz zu erscheinen habe, steht mir beispielsweise noch deutlich vor Augen. Sicher, es gibt solche Gefühle und Zustände, aber sie sind kein Zeichen von Erleuchtung. Die Wirklichkeit des „göttlichen Lebens“ ist sehr viel nüchterner gestrickt. Sie besteht in der harmonischen Integration von Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln in allen Angelegenheiten. Der Erleuchtete ist also kein besonderer Mensch, der mit Gaben ausgestattet wäre, die anderen fehlen.
Erleuchtung ist ein destruktiver Prozess. Sie hat nichts damit zu tun, besser zu werden oder glücklicher zu sein. Erleuchtung ist das Auseinanderbrechen der Unwahrheit. Sie besteht darin, die verlogene Fassade zu durchschauen. Sie ist das vollständige Ausradieren von allem, was wir für wahr gehalten haben. – Adyashanti: The end of your world
Mit dem Wort Erleuchtung bezeichnet man also die Befreiung von konditionierter Unwissenheit, dem Normalzustand des Menschen in unserer Zivilisation. Schichten von Abfall und Ballast werden abgetragen, um zutage zu fördern, was längst als unser Erbteil vorhanden war. Das Dunkel der Ignoranz wird erhellt durch das Licht der Wahrheit. Hierin treffen sich die Philosophie der Aufklärung und das spirituelle Erwachen, die im Englischen beide mit dem Wort Enlightenment bezeichnet werden. Um Erleuchtung zu erfahren, bedarf es also lediglich der mutigen Selbstbefreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit – einschließlich der Befreiung von Unterwerfung unter staatliche, religiöse und Wissens-Autoritäten. Erleuchtung bedarf der Aktivierung und Schärfung des Geistes, nicht seiner Zerstörung oder Abschaltung, wie in New-Age-Kreisen verbreitet wird. Wir nehmen dann die Wirklichkeit in aller Klarheit wahr.
Erleuchtung ist jedoch mitnichten ein Endpunkt. Da sich Gottes Wirklichkeit ins Unendliche erstreckt, ist so etwas wie Endgültigkeit, Absolutheit, Vollständigkeit oder gar Perfektion nie erreichbar. Jenseits des Moments der Erleuchtung öffnet sich ein endloses Feld des Bewusstseins mit unendlich vielen Stufen der Bewusstwerdung. Tatsächlich steht die mit einem menschlichen Körper und Geist ausgestattete Seele weit unten auf der Himmelsleiter, die, während man an ihr hinaufsteigt, ständig weitere Sprossen über dem vermeintlichen Ziel enthüllt.
Kennzeichen der Erleuchtung
Drei Wörter: Erkenntnis, Freiheit, Moralität.
Spezifisch:
- Erkenntnis Okkulten Wissens & Wissens um Okkultisten;
- Erkenntnis des Unterschieds zwischen Schein und Sein.
- Erkenntnis, dass der Schein vorsätzlich erzeugt & gestützt und das wahre Sein versteckt wird.
- Erkenntnis, dass wir persönlich an der Erzeugung der Lüge beteiligt waren; wir befreien uns von ihr.
- Wir haben uns deprogrammiert.
- Erkenntnis Objektiver Realität & Moralität;
- Erkenntnis freien Willens und persönlicher Verantwortung (Karma);
- Erkenntnis, dass jegliche Autorität illegitim und illusionär ist;
- Erkenntnis, dass die gegenwärtige conditio humana in Sklaverei besteht und dass die kollektive Geisteshaltung die Ursache ist;
- Nichtangriff & Selbstverteidigung zu praktizieren;
- Erkenntnis der Eigenschaften des wahren SELBST;
- Freiheit von der Herrschaft des Ego & Ego-Identifikation;
- Freiheit von Anhaftung;
- Freiheit von aller falschen Religion;
- Freiheit von Furcht;
- Erkenntnis der Einheit allen Seins auf fundamentaler Ebene;
- Erkenntnis, dass Wissen niemals negativ ist;
- wir kultivieren Unterscheidungs- und Urteilskraft;
- wir kultivieren Selbst-Bewusstsein, auch bezüglich ‚negativer‘ Emotionen;
- Erkenntnis, dass materielle und spirituelle Welt einander nicht übertrumpfen;
- wir stehen der Welt nicht gleichgültig gegenüber;
- wir drücken Verstehen durch Handeln aus (=Weisheit);
- Erkenntnis, dass „spirituelle Erfahrungen“ ≠ Erleuchtung sind;
- Erkenntnis, dass Erleuchtung kein Ego-Projekt ist;
- wissen, was nicht geändert werden kann bzw, was ich ändern muss;
- Aufklären. Anderen bei ihrer Entwicklung helfen;
- Haltung der Nächstenliebe;
- Haltung des Bodhisattva;
- Erkenntnis, dass Erleuchtung ≠ Perfektion (Gott) bedeutet;
- Erleuchtet bedeutet lediglich, NICHT IM SCHATTEN der Lüge zu stehen;
- wir verwirklichen Erleuchtung auf dieser Existenzebene durch Moralität;
- auf höherer Ebene durch unsere göttliche Herkunft bzw. Identität.
Literatur
- The Stellar Man / John Baines. – JBI, 2002
- The Science of Love / John Baines. – JBI, 1993
- Materialismus am Abgrund / Manova, 2024
- The End of Your World: Uncensored Straight Talk on the Nature of Enlightenment / Adyashanti, Sounds True, 2004
- Street-wise spirituality. What does it truly mean to be awake? / Mark Passio, 2014