Episode 77: Machina hominis

Wir befinden uns in der sechsten Folge einer Serie zum menschlichen Bewusstsein. Diese Episode wird dir möglicherweise übertrieben formuliert, zu sehr zugespitzt oder völlig sinnlos erscheinen, wenn du sie aus dem Zusammenhang gerissen anschaust. Das gilt wohl bereits für etliche ältere Folgen, aber es lässt sich nicht ändern.

Obwohl ich versuche, jede Episode so eigenständig wie möglich zu gestalten, fehlen frühere Erläuterungen zu Naturrecht, universellen Gesetzen, Freiheit, Bewusstsein, Zivilisation, Staatlichkeit, esoterischen Weisheitstraditionen usw. Falls du nicht in solchen Traditionen welcher Art auch immer bewandert bist und Probleme hast, meine Gedankengänge nachzuvollziehen, empfehle ich, die früheren Episoden in chronologischer Reihenfolge anzuschauen. Sollten dann noch Fragen offen sein oder Kritikpunkte bestehen, würde ich mich freuen, von dir zu hören. Nimm in diesem Fall bitte über die Website bannbrecher.de oder über den dazugehörigen odysee-Kanal Kontakt mit mir auf.

Ein Mensch ist das „mit der Fähigkeit zu logischem Denken und zur Sprache, zur sittlichen Entscheidung und Erkenntnis von Gut und Böse ausgestattetes höchstentwickeltes Lebewesen“ [Duden].

Er ist „das mit Verstand und Sprachvermögen begabte Lebewesen von seiner Geburt bis zu seinem Tod.“ [Köbler Jurist.Wörterbuch]

Da ist noch sehr viel mehr, was den Menschen ausmacht, aber das hier ist der gesellschaftliche Konsens – zumindest derjenige einer halbwegs akzeptabel klassich gebildeten Schicht. Wir stellen uns vor, dass dies die besonderen Begabungen der menschlichen Gattung seien.

Schadensanalyse

Wie ist es um die besonderen Begabungen des Menschen aber tatsächlich bestellt? Sicher, einzelne Menschen nutzen und kultivieren sie. Doch tun wir das alle? Oder wenigstens viele? Machen wir von unserer Fähigkeit zur sittlichen Entscheidung Gebrauch? Können die meisten noch Gut von Böse unterscheiden oder lehnen sie diese Kategorien überhaupt ab? Und wenn sie nicht mehr wissen, was Gut ist, liegt das womöglich daran, dass sie nicht nur ihren Verstand vernachlässigen, sondern auch seelisch-emotional verdorrt sind?

Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt? Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. – Friedrich Hölderlin: Hyperion

Hölderlin zufolge ist das Volk der Deutschen zerrissen. Nicht nur in viele kleine Territorien. Nicht nur in Berufsstände, Reiche und Arme, Städter und Dörfler, sondern auch innerlich. Sie lassen sich in berufliche Formen pressen und betrachten sich hernach als identisch mit ihren Funktionen. Darum wissen sie die Freiheit nicht zu schätzen und wünschen sie das Wahre, Schöne und Gute zu vergessen. Nun, das gilt nicht nur für den Mitteleuropäer, auch wenn die Starrheit und Unbeweglichkeit der Deutschen sprichwörtlich geworden ist. Wer einmal längere Zeit mit Ausländern verbracht hat, wird bestimmt schon die Aufforderung gehört haben, man solle nicht so deutsch sein. Doch wir finden ähnliche Haltungen in der ganzen Welt. Überall scheuen sich die meisten Menschen, wahrlich frei zu denken und zu handeln, etwa in meiner langjährigen Wahlheimat Indien oder in Japan, für das ich eine zeitlang schwärmte. Selbst wenn sie bekunden, Freiheit sei ihr höchster Wert im Leben, kuschen sie doch bei der ersten Drohung amtlichen Durchgriffs, lassen sich von ihren Vorlieben und Abneigungen an der Nase herumführen, ergeben sich in gedankenlose Routinen oder folgen dem Weg des geringsten Widerstands. Das gilt selbst für jene, die sich auf den Pfad der Bewusstwerdung begeben haben. Das vom Un- und Unterbewussten gefütterte Ego sträubt sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen, aus dem Fahrersitz gehoben zu werden. Jenen, die auf ihrem Pfad steckengeblieben sind, legt Erleuchtungslehrer Adyashanti folgende Fragen nahe:

Woran halten wir noch fest? Was ist noch verwirrend? Welche Situationen im Leben können dich dazu bringen, Dinge zu glauben, die nicht wahr sind, und dich in Widersprüche, Leiden und Trennung hineinziehen? Was ist es genau, das die Macht hat, das Bewusstsein zurück in das Schwerefeld des Traumzustandes zu locken? […] „Was in mir kann immer noch in die Trennung gehen? Was in mir kann immer noch in Hass, in Unwissenheit, in Gier verfallen? Was in mir kann dazu führen, dass ich mich gespalten, isoliert und voller Kummer fühle? – Adyashanti: The End of Your World

Das muss natürlich jeder für sich selbst beantworten. Heute möchte ich lediglich ein paar allgemeingültige Hinweise zu Pannen auf dem Weg zum höchsten Bewusstsein geben. Das erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Was schränkt freies Handeln ein? bewusstloses Verhalten.

Freiheit im Inneren bedeutet Freiheit von Programmierung. Jede Form von Automatismus ist eine verdeckte Form von Sklaverei. Wenn wir auf äußere Reize oder innere Regungen re-agieren, als gäbe es keine Alternative, dann agieren wir nicht selbstbestimmt.

Wie häufig? Jeder zumindest ab und an. Die meisten Leute die meiste Zeit.

Bewusst zu leben bedeutet, innere wie äußere Wirklichkeit permanent wahrzunehmen und sich entsprechend zu verhalten. Das ist anfangs anstrengend. Es betrifft außerdem ein potenziell unendlich großes Feld, das unsere Aufmerksamkeit abdecken müsste. Darum fliegen die meisten Menschen dauerhaft auf Autopilot. Man kann sich allerdings ans Beobachten gewöhnen und es zu einer inneren Einstellung machen. Handlungen, die früher reaktiv durch programmierte Automatismen übernommen wurden, können sukzessiv in bewusster Steuerung ausgeführt werden.

Warum? Unsere Sicht auf die Welt ist von Separatismus bestimmt, was ohne Ausnahme zur Furcht als der unserem Lebensgefühl zugrunde liegende Kraft führt. Das hat Folgen für unser Verhalten.

Auf welche Weise? Wir folgen Vorlieben, Abneigungen, Tabus, Dogmen, Regeln, Paragraphen, Vorschriften, Befehlen, fremden Urteilen, Traditionen, Sitten, Gewohnheiten, bedingten & unbedingten Reflexen (Programmierung).

Mit den Wölfen zu heulen / mit dem Strom zu schwimmen erlaubt uns vermeintlich weniger Energieverlust durch Reibung mit der menschlichen Gesellschaft. Doch die Mainstream-Auffassung der Realität unterscheidet sich heute so deutlich von der Wirklichkeit des Universums, dass sie ein invertiertes Bild derselben zeichnet. Die Zivilisationskultur stellt sich in direkte Gegnerschaft zu etwas, das sie als „Natur“ betitelt, ausklammert und bekämpft. Das ist ein Kampf, den man nur verlieren kann.

Wer? Am deutlichsten sieht man den Automatismus beim Bandarbeiter, Formularausfüller, Kraftfahrer, Schüler, Lehrer, Polizisten, Soldaten; aber auch beim Politiker, Demonstranten, und allen, die sich wie Schafe und Ziegen im Flow der Herde bewegen, weil sie nicht allein sein können.

Was sind wir dann? juristische Personen, Sklaven, programmierte Roboter, Automaten, Maschinen, Schachfiguren, Non-playing characters (NPC), Schafe, Zombies – alles, nur keine freien Menschen! Mit Ausnahme der „Person“ sind sämtliche dieser Ausdrücke gängig für Leute, die wir als „noch nicht aufgewacht“ betrachten. Doch nicht nur die sogenannten Schlafschafe existieren weitgehend unbewusst vor sich hin. Bis zum Erreichen der spirituellen Erleuchtung schöpfen auch alle anderen ihr Bewusstseinspotenzial nicht voll aus. Jeder hat Bereiche, in denen er unter Umständen einem geistigen Programm (oder gar Autoritäten oder der Herde) das Steuer überlässt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Jede Handlung, die eine andere Grundlage hat, als den eigenen, voll bewusst entstandenen freien Willen, ist ein Zeichen von Fremdbestimmung, das heißt Unfreiheit.

Streng genommen können wir uns dann nicht Menschen nennen, sondern nur homo sapiens.

Denn der Mensch, das Ebenbild des Schöpfers, kann nur der Freie sein (Hoffmann von Fallersleben). Hierüber sind sich der Denker, der Dichter (Friedrich Hölderlin) und der Duden einig.

Selbstreparatur & Pannenhilfe

Fremdbestimmung abzuschaffen fängt bei uns selbst an. Wir selbst sind es, die Fremdbestimmung über uns zulassen, und wir sind auch daran beteiligt, andere auf subtile oder überhaupt nicht subtile Weise zu gängeln. Das ist eine Folge der tief sitzenden Furcht, die das Leben des noch nicht voll Erwachten ausnahmslos bestimmt. Wenn man sich und andere hiervon befreien möchte, muss man die Kontrolle anfangen zu lockern.

Das Wichtigste ist, dass die ganze Welt aufwachen kann. Zum Aufwachen der ganzen Welt gehört die Erkenntnis, dass die ganze Welt frei ist – jeder ist frei, so zu sein, wie er ist. Solange nicht die ganze Welt die Freiheit hat, dir zuzustimmen oder dir zu widersprechen, solange du nicht jedem die Freiheit gelassen hast, dich zu mögen oder nicht zu mögen, dich zu lieben oder zu hassen, die Dinge so zu sehen, wie du sie siehst, oder die Dinge anders zu sehen – solange du nicht der ganzen Welt ihre Freiheit gewährt hast – wirst du niemals deine Freiheit haben… Jeder darf so sein, wie er ist. Erst wenn jeder so sein darf, wie er ist – wenn du ihm diese Freiheit lässt, die Freiheit, die er bereits besitzt –, wirst du in dir die Fähigkeit finden, ehrlich und aufrichtig und authentisch zu sein. Wir können nicht wahrhaftig sein, solange wir erwarten oder wollen, dass andere uns zustimmen. Das führt dazu, dass wir uns einschränken – vielleicht gefällt ihnen nicht, was ich sage; vielleicht stimmen sie mir nicht zu; vielleicht mögen sie mich dann nicht. Wenn wir uns selbst schützen, enthalten wir auch allen anderen die Freiheit vor. – Adyashanti: The End of Your World

Das Weltbild der Separation führt zu Furcht. Furcht ist die Abwesenheit von Liebe. Wir lieben uns selbst nicht, sonst würden wir Fremdbestimmung nicht zulassen. Sonst würden wir uns auch nicht davor fürchten, wie wir vor anderen dastehen, wenn sie uns durchschauen. Wir sind nicht wahrhaftig, wir sind nicht authentisch, und deshalb lieben wir uns nicht. Wir sind nicht authentisch, weil wir uns einmal zwischen uns selbst und der Zuneigung anderer entscheiden mussten und die falsche Seite gewählt haben. Wahre Selbst-Liebe wird zerstört zugunsten materialistischem, animalischem Selbsterhalt; man ersetzt Liebe durch Kontrolle.

Der christliche Leitspruch „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ wird daher in den Köpfen einer massiv und massenhaft traumatisierten Bevölkerung zu einem bestenfalls sinnlosen, schlimmstenfalls zerstörerischen Leitsatz, denn da sie sich selbst nicht lieben, glauben sie, anderen legitimerweise antun zu können, was immer ihnen zwecks körperlichem Selbsterhalt notwendig erscheint.

Der Materialismus unserer Zeit ist der größte Henker der Menschheit, denn die Menschen haben sich daran gewöhnt, zu denken, dass nichts existiert außer dem, was man sehen und anfassen kann. Den Menschen wird das weise Wissen der hermetischen Meister, … der Wissenschaft vom Menschen, vorenthalten. Die hermetische Weisheit besagt, „wie es oben ist, so ist es unten“. Das bedeutet, dass der Mensch dem Universum analog ist und dass der gesamte Kosmos in einem winzigen Maßstab in ihm steckt. Leider richtet der homo sapiens seine Aufmerksamkeit nur auf das Außen. Es ist, als hätte er Angst, seine innere Welt zu betrachten, obwohl wahre Weisheit, Glück, Menschlichkeit und Evolution von der Kenntnis dieser inneren Welt abhängen. (296)

In der heutigen Zeit kann dies nur derjenige schaffen, der in der Lage ist, selbst zu denken und die kulturellen Normen der Menschheit zu überwinden, um seine eigene intellektuelle Individualität zu erlangen… Wenn der Einzelne ein Sklave seiner kulturellen Programmierung ist, fehlt ihm die wahre intellektuelle Fähigkeit, weil er mit dem kollektiven Gehirn der Masse denkt, das ein Schmelztiegel von Mittelmäßigkeit, Starrheit und Aberglauben ist. In Wirklichkeit ist nur derjenige, der sich von der Herde löst und seine wahre Individualität erlangt, frei, sein Leben nach Belieben umzugestalten oder zu lenken. (297)

Die innere Moral liegt in der Verantwortung des Einzelnen selbst. Moralisch zu sein bedeutet, die volle individuelle Verantwortung zu übernehmen und sich vor der Natur für die eigenen Handlungen verantwortlich zu erklären. Nur ein wirklich bewusster Mensch kann dies tun. Deshalb kann der Einzelne, dem es an der nötigen Selbstbeherrschung mangelt, nicht moralisch handeln; er wird sich darauf beschränken, blind und unwissentlich den von der Mehrheit vorgegebenen Wegen zu folgen. (332)

– John Baines: The Science of Love

Und da wären wir wieder: Ohne die Fähigkeit zur sittlichen Entscheidung nach korrekter Bestimmung von Gut und Böse, Richtig und Falsch ist der sapiens kein Mensch, und die Voraussetzung hierfür ist das Bewusstsein des Individuums um die universellen Gesetze bezüglich des Menschen.

Wie erkennt man, ob der andere frei ist? Wenn das nicht durch irgendeine Art von Autoritätsanmaßung oder durch Konformität mit Einflussquellen offensichtlich wird, kann man ihn mit „Macht“ ausstatten: Man gibt ihm Gelegenheit, sich zwischen moralischem und unmoralischem Verhalten zu entscheiden. Ein andermal setzt man ihn unter Druck und schaut, wie er reagiert. Freunde in der Not…

Wie erkennt man, ob man selbst wirklich frei handelt? Wenn man äußerem Druck (Gesetze, Geld, Drohungen, Traditionen, Dogmen, sozialer Ausschluss usw) und inneren Trieben (Gewohnheit, Lust, Furcht, Gier, Faulheit) nicht nachgibt, sondern jederzeit seinem inneren Kompass folgt.

Wodurch beenden wir Unfreiheit?

1.) Man muss sein Urteilsvermögen trainieren. Das Freie und das Maschinelle unterscheiden sich grundlegend:

  • Selbst ≠ Ego;
  • Diener ≠ Sklave;
  • streben ≠ gelüsten;
  • Wille ≠ Wunsch;
  • Moral ≠ Legalität.

2.) Durch bewusstes Beobachten der eigenen inneren Regungen (Gedanken, Gefühle, Emotionen) = Aufmerksamkeit = Mindfulness; sowie durch bewusste Entscheidungen. Dabei übt man bedingungslose Ehrlichkeit. Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit bedeuten nicht, dass man mit seinen Verfehlungen hausieren geht, sondern dass man sie weder vor sich selbst noch vor anderen zu verbergen sucht. Wo unser Abweichen vom rechten Pfad die Ursache von Schaden oder Leid geworden sind, stehen wir zu unseren Fehlern, denn nur dann können wir unser Verhalten erfolgreich korrigieren. Unehrlichkeit, Unaufrichtigkeit und Mangel an Wahrhaftigkeit sind Zeichen der inneren Unfreiheit, und das ist auch darum gefährlich, weil man mangels guter Argumente letztlich zur Gewalt greifen muss, um die Lüge aufrecht zu erhalten.

Wir werden uns in der nächsten Sendung die Trivium-Methode der Bewusstwerdung ansehen, die uns bei konsequenter Anwendung in unserem Anliegen hilft.

Literatur

  • Hyperion oder Der Eremit in Griechenland / Friedrich Hölderlin
  • The Science of Love / John Baines
  • The End of Your World / Adyashanti

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