Viele Leute können es kaum glauben, dass Das-was-ist wirklicher ist, als all ihre Vorstellungen und Meinungen darüber…
Wirklichkeit ist buchstäblich das einzige, was tatsächlich existiert.
– Adyashanti: The way of liberation
Bei all unserer Begeisterung für die großen Philosophen wie Schopenhauer und Kant oder für Lehrer wie Jiddu Krishnamurti und Mark Passio und ihr Werk sollten wir stets im Hinterkopf behalten, dass die von ihnen kommunizierten Gedanken nicht die Wahrheit sind, sondern lediglich Hinweise auf die Wahrheit: ein Mittel, um diese enthüllen zu helfen.
Doch auch unsere eigenen Gedanken sind nicht die Wahrheit. Tatsächlich stehen sie der unmittelbaren Erfahrung im Weg.
Wirklichkeit ist das, was wirkt. Sie besteht in allem, was ist, dh. in allem, was bisher geschah und entstanden ist, einschließlich der Prinzipien, aufgrund derer Ereignisse und Dinge in Existenz kamen.
Wahrheit ist das, was wir von der Wirklichkeit wahrnehmen können. Wahrnehmung filtert die Wirklichkeit auf vielerlei Weisen, z.B. durch unsere Unfähigkeit, den größten Teil der Wirklichkeit überhaupt „sehen“ zu können, aber auch durch die Konzepte, ohne die wir nicht erfassen können, was wir da sehen. Wahrheit ist daher etwas anderes als die Wirklichkeit und sie ist tatsächlich individuell verschieden, aber das korrekt Wahrgenommene widerspricht sich nicht, sondern ergänzt sich. Wahrheit ist also ein selektives abstrahiertes Symbol für die Wirklichkeit.
Das Portraitfoto ist nicht der Mensch. Die Landkarte ist nicht die Landschaft. Das Schild ist nicht der Ort, auf den es zeigt. Das Weltbild ist nicht die Welt als solche. Wissenschaftliche Schriften enthalten kein Wissen. Keine Lehre kann die Wahrheit sein, auf die sie verweist.
Alles was gesagt wird, alles was in Schrift oder Symbolen oder Bildern gezeigt wird, alles was wir wahrnehmen, alles was wir für wahr halten, sämtliche Kategorien, jeder einzelne Gedanke, jedes einzelne Mosaiksteinchen unseres Weltbilds… ist nichts weiter als eine Vorstellung des Geistes – ein Traum.
Auch die Naturrechtslehre nebst allen anderen Philosophien und Wissenschaften fällt darunter; sie ist lediglich die in Wortsymbolen dargestellte Begriffswelt, die sich in menschlichen Kulturen aufgrund der ihr eigenen Wahrnehmungsweisen gebildet hat. Definitionen versuchen etwas einzugrenzen, das Teil eines grenzenlosen Kontinuums ist. Die Wirklichkeit existiert jenseits der von uns formulierten Gesetze. Mehr als eine grobe Annäherung an sie wird uns mit bildlichen oder sprachlichen Mitteln daher nie gelingen. Heißt das, dass sie uns grundsätzlich und auf immer entrückt bleibt? Nein. Sie kann direkt erfahren werden. Man kann sie kennenlernen und etwas über sie wissen. Nur eben nicht allein durch Kommunikation, mit Mitteln der Kultur, durch Symbole.
Adyashanti spricht:
»Die Moderne hat vergessen, dass Fakten und Informationen trotz all ihrer Nützlichkeit nicht dasselbe sind wie Weisheit, und ganz bestimmt nicht dasselbe wie das direkte Erleben der Wirklichkeit. Wir haben den Kontakt mit intuitiver Weisheit, die aus Ruhe und Stille geboren wird, verloren und wir sind an einem Meer von Informationen gestrandet, das sein Versprechen auf stets wachsendes Glück und auf Erfüllung nicht halten kann.« – Adyashanti: The way of liberation
Der Geist ist ein mächtiges Werkzeug, mit Hilfe dessen wir uns in der Welt bewegen können. Aber eins ist er nicht: ein getreues Abbild der Wirklichkeit, geschweige denn die Wirklichkeit selbst.
Literatur:
- The way of Liberation. A Practical guide to spiritual enlightenment / Adyashanti. – Open Gate Sangha, 2012